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#Thomas Manns Deutschlandbild auf dem Prüfstand

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Thomas Manns Deutschlandbild auf dem Prüfstand

Das Thomas Mann House im kalifornischen Pacific Palisades steht pandemiebedingt leer, schon seit März. Doch das bundeseigene Residenzhaus am früheren Wohnsitz des Literaturnobelpreisträgers kümmert sich weiterhin um den intellektuellen Austausch zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland – ganz im Sinne einer Formulierung von Thomas Mann aus seiner amerikanischen Exilzeit: „Wie heute alles liegt, ist meine Art von Deutschtum in der gastfreien Kosmopolis, dem rassischen und nationalen Universum, das Amerika heißt, am passendsten aufgehoben.“ Heute, nach der Wahl von Joe Biden zum amerikanischen Präsidenten, kann man diesen Satz wohl wieder glaubwürdig finden.

Andreas Platthaus

Er stammt aus einer Rede, die Thomas Mann am 29. Mai 1945 in Washington D.C., gehalten hat, auf Einladung der dortigen Library of Congress. Ihr Titel lautete „Deutschland und die Deutschen“, und drei Wochen nach Kriegsende musste sie auf größtes Interesse stoßen – auch im Sinne einer Selbstprüfung des weltweit prominentesten deutschen Intellektuellen, der sich gegen Hitler in Stellung gebracht hatte. Thomas Manns Rundfunkansprachen an „Deutsche Hörer“ waren über Jahre hinweg von der BBC ins Feindesland ausgestrahlt worden und ständig mit der Frage beschäftigt, wie sich seine Landsleute das nationalsozialistische Verhängnis hatten einhandeln können. Nun war der Diktator besiegt, aber dazu hatten die Deutschen selbst kaum etwas beigetragen. Wie würde Thomas Mann mit der Frage nicht nur nach den Verbrechen durch das NS-Regime, sondern auch nach der Verantwortung für dessen Dauer umgehen? Und mit der Frage nach dem, was daran jeweils typisch deutsch war, also auch typisch für einen Mann wie Thomas Mann.

„Deutschland und die Deutschen“ gilt als einer der zentralen essayistischen Texte im Werk des Schriftstellers, weil es darin ums Ganze ging. Alles vorherige Beharren auf die kulturellen Leistungen der Deutschen – und des einen Deutschen, der Thomas Mann war – verfing angesichts der nun immer deutlicher werdenden Verheerungen, die das „Dritte Reich“ angerichtet hatte, nicht mehr. Zugleich ist Thomas Mann diese Rede von seinen besiegten Landsleuten verübelt worden, als sie einen Monat später zunächst fragmentarisch in der „Münchner Zeitung“ und dann im Oktober 1945 vollständig in der „Neuen Rundschau“ abgedruckt wurde. Sie wurde als Abrechnung mit der eigenen Kultur missverstanden, und insoweit darf die Rede gerade im gegenwärtigen Amerika, das selbst nach der Präsidentschaftswahl in einer schmerzhaften und im Ergebnis noch uneindeutigen Selbstprüfung steckt, wieder ganz aktuell wirken. Nicht ihres Gegenstands wegen, sondern aufgrund ihrer Methode und Rezeption.

Gut angelegt

Deshalb hat das Thomas Mann House just diesen Text ausgesucht, um in begegnungsarmen Zeiten wenigstens virtuell das transatlantische Gespräch weiterzupflegen, dem es verpflichtet ist. „MutuallyMann“ (Wechselseitig Mann) heißt ein eigens erdachtes Internet-Diskussionsangebot, mittels dessen interessierte Leser ihre Eindrücke eines bestimmten Thomas-Mann-Textes miteinander teilen können. Einmal hat ein solcher Austausch bereits stattgefunden: Ende März/Anfang April über die Erzählung „Mario und der Zauberer“, die seit ihrer Publikation im Jahr 1930 als fiktionalisierte Analyse des totalitären Charakters gedeutet worden ist. Die nächste Ausgabe von „MutuallyMann“ wird nun „Deutschland und die Deutschen“ gelten. Sie beginnt am 30. November und ist auf insgesamt drei Tage angesetzt.

Das Prinzip funktioniert so: Für jeden Tag wird vorab ein anderer Teil des Textes als Grundlage bestimmt. Da „Deutschland und die Deutschen“ nur etwas mehr als zwanzig Buchseiten in der Werkausgabe umfasst, hält sich der Lektüreaufwand in Grenzen. An jedem der drei  Tage werden vorab ausformulierte Stellungnahmen ins Netz gestellt – aus einem illustren Kreis, den das Thomas Mann House bereits als Mitwirkende gewonnen hat. Darunter sind die Schriftsteller Max Czollek, Olga Grjasnowa und Juan Guse, die Literaturwissenschaftler Veronika Fuechtner, Stefan Keppler-Tasaki, Kai Sina, Hans Rudolf Vaget und Meike Werner, der Musikkritiker Alex Ross vom „New Yorker“, die Thomas-Mann-Fellows Maria Exner und Christoph Möllers sowie David Morris von der Library of Congress. Durch ihre Impulse wird das virtuelle Gespräch in Gang gebracht; wie es sich dann entwickelt, liegt an der Originalität der weiteren Beiträge. Das können kurze Bemerkungen sein, ergänzende Zitate, längere Stellungnahmen oder von der Lektüre inspirierte Assoziationen in Form von Bildern oder Musik – die viertägige Aktion rund um „Mario und der Zauberer“ hat vor einem halben Jahr Stärken und Schwächen des Konzepts gezeigt.

Es ist abhängig vom Einsatz der Teilnehmer. Die Verkürzung auf drei Tage und die Auswahl eines noch etwas knapperen Textes als damals trägt der Gefahr von Ermüdung Rechnung. Zugleich bietet „Deutschland und die Deutschen“ durch den dezidiert politischen Inhalt mehr Anknüpfungspunkte für eine aktualisierende Debatte als die Erzählung „Mario und der Zauber“. Geführt wird die Diskussion von „MutuallyMann“ auf Englisch, und auch dem trägt die Auswahl des neuen Textes insofern Rechnung, als diese Rede ja seinerzeit von Thomas Mann auf Englisch gehalten wurde, übersetzt von Erika Mann und ihm selbst. Tausend Dollar Honorar erhielt er dafür, das war gut angelegtes Geld, wenn man bedenkt, dass uns der Inhalt seit fünfundsiebzig Jahren nicht loslässt.

Die Ergebnisse der zweiten Ausgabe von MutuallyMann werden im Netz unter https://mutuallymann.vatmh.org/ zu verfolgen sein, wo man sich auch zum genauen Ablauf informieren kann. Im Idealfall wird man angeregt, sich selbst daran zu beteiligen. Wenn noch nicht gleich, dann vielleicht bei MutuallyMann3 im kommenden Jahr.

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