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#Verletzungsfurcht auf allen Ebenen

„Verletzungsfurcht auf allen Ebenen“

Unter Antisemitismus hat man im frühen zwanzigsten Jahrhundert noch etwas anderes verstanden. Es war noch nicht klar, dass er mörderisch werden würde, und manche Anti­semiten traten damals auf, als wäre die Bezeichnung ein Ehrentitel. In Frankreich zählte Léon Daudet zu ihnen, Schriftsteller und enger Freund von Marcel Proust. Daudet war entscheidender Für­sprecher in jener Jury, die 1919 den Goncourt-Preis an Proust vergab und damit für den literarischen Durchbruch des damals bereits Achtundvierzigjährigen sorgte, der nur noch drei Jahre zu leben hatte. Proust jedoch war der Sohn einer Jüdin und Léon Daudet mit ihm seit Jugendtagen befreundet. Der Judenhass des einen hat nicht verhindert, den anderen auszuzeichnen, und dieser hielt jenem schon vorher ungeachtet aller publizierten antisemitischen Tiraden die Treue. Wie war das möglich?

Dieser Frage geht eine Ausstellung in Paris nach, die sich dem Judentum in Le­ben und Werk Marcel Prousts widmet. Im Jahr seines hundertsten Todestages haben sich gleich drei bedeutende Pariser Institutionen miteinander abgestimmt, um nacheinander je­weils zu ihrem Profil passende Aspekte zu präsentieren: Das Stadtmuseum Carnavalet hat mit seiner Schau zu Paris als zentralem Lebens- und Werkort Prousts den Anfang gemacht, im Oktober wird die Nationalbibliothek mit einer Ausstellung über dessen Schreibpraxis den Abschluss bieten, und als Mittelstück dieser Triade ist jetzt „Marcel Proust – Du côté de la mère“ im Jüdischen Museum zu sehen.

Was vom mütterlichen Judentum übrig blieb

Der französische Titel zitiert den dritten Band von Prousts siebteiligem Romanzyklus „À la recherche du temps perdu“: „Le côté des Guermantes“ (was hier „Der Umkreis der Guermantes“ bedeutet, auf Deutsch aber einfach nur mit „Guermantes“ betitelt worden ist). Es geht also um den Einfluss der mütterlichen Herkunft. Jeanne Weil, die 1870 den katholischen Mediziner Adrien Proust heiratete, stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Un­ternehmerfamilie mit elsässischen und moselländischen Wurzeln; ihr Vater war entfernt mit dem nahezu gleichalten Karl Marx verwandt. Jeanne Weil blieb als verehelichte Proust ihrer Religion treu, was nicht eben häufig bei konfessionsübergreifenden Eheschließungen jener Zeit war. Ei­ne jüdische Lebensführung erlebte ihr älterer Sohn Marcel aber nur bei den Großeltern mütterlicherseits. Er selbst wurde wie sein Bruder Robert katholisch getauft.

Das Bildnis von Prousts Mutter Jeanne malte Anais Beauvais 1880, als die Porträtierte dreißig Jahre alt war.


Das Bildnis von Prousts Mutter Jeanne malte Anais Beauvais 1880, als die Porträtierte dreißig Jahre alt war.
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Bild: Musée d’art et d’histoire d

Doch das jüdische Erbteil war Marcel Proust bewusst und wichtig, was daran zu sehen ist, dass er zwar meist ein Geheimnis daraus machte, aber 1896 einem weiteren engen antisemitischen Freund, dem Baron de Montesquiou, auf einen offenbar nach Zustimmung heischenden Brief mit judenfeindlichen Bemerkungen ein kleines Billet schrieb, in dem er seine familiäre Herkunft offenlegte – „Sie hätten mich sonst bei einem Streitgespräch unfreiwillig verletzen können“. Dieses zusammengefaltete Brieflein ist ein besonders bewegendes Objekt der Ausstellung, und das Wort „juif“ (Jude) ist als einziges im Text auf der ersten Seite von Proust großgeschrieben worden, so dass es wie ein Leuchtfeuer strahlt.

Zwei Jahre später – Frankreich steckte intensiv in der Dreyfus-Affäre, in der sich Proust ohne Zögern auf die Seite des zu Unrecht verurteilten jüdischen Leutnants geschlagen hatte – wurde der Schriftsteller von Édouard Drumont persönlich, dem prominentesten französischen Antisemiten, als Jude denunziert. Darauf reagierte Proust bewusst nicht. Doch als der Tod der Mutter im Jahr 1905 alle seine existierenden literarischen Pläne beendete und die Arbeit an jenem Erzählstoff auslöste, der dann von 1913 an als „À la recherche du temps perdu“ publiziert wurde, kam im An­denken an die teure Verstorbene auch das Judentum zu großer Bedeutung im entstehenden Roman.

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