Warum bei den tödlichen Polizeischüssen in Oldenburg die Bodycams ausblieben

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Als Lorenz A. von einem Polizisten erschossen wurde, lief keine Bodycam. In der Nacht zu Ostersonntag hatte der Einundzwanzigjährige vor einer Diskothek in der Oldenburger Innenstadt Reizgas versprüht und dann die Flucht ergriffen. Als die Polizei ihn stellen wollte, fielen mehrere Schüsse. Die Obduktion ergab: Er wurde dreimal von hinten getroffen – in den Oberkörper, die Hüfte, den Kopf.
Warum der Beamte die tödlichen Schüsse abfeuerte, ist bislang unklar. Wie später bekannt wurde, hatte Lorenz A. ein Messer bei sich. Nach aktuellem Ermittlungsstand soll er es jedoch weder offen getragen noch gar die Polizisten damit bedroht haben. Was in den entscheidenden Sekunden geschah, muss die Staatsanwaltschaft klären. Gegen den siebenundzwanzigjährigen Schützen wird wegen des Verdachts des Totschlags ermittelt. Doch ein Beweismittel fehlt: eine Aufnahme der Körperkameras. Obwohl sie einsatzbereit an den Uniformen befestigt waren, blieben sie ausgeschaltet.
„Das ist Herrschaftsstrafrecht“
Dass so etwas möglich ist, hält der Kriminologe Rafael Behr für einen schwerwiegenden Fehler. Der ehemalige Professor an der Akademie der Polizei Hamburg hat Hunderte Polizisten ausgebildet – und spricht sich klar für eine verpflichtende Aktivierung der Bodycams aus. Derzeit liegt es in allen 16 Bundesländern im Ermessen der Beamten, ob sie ihre Kamera einschalten oder nicht. „Dadurch wird oft nur das gefilmt, was dem Polizisten nützt“, sagt Behr. Das sei „Herrschaftsstrafrecht“: Das Beweismittel Bodycam werde genutzt, um Polizisten zu schützen – nicht aber Bürger, die möglicherweise Opfer polizeilichen Fehlverhaltens werden.

Dabei hätte sich angesichts früherer Vorwürfe gegen Polizisten längst etwas ändern müssen. Als Beispiel nennt Behr den Fall des 16 Jahre alten Mouhamed Dramé. Der Senegalese wurde 2022 in Dortmund von einem Polizisten mit einer Maschinenpistole erschossen. Dramé wollte sich damals mit einem Küchenmesser das Leben nehmen. Dass die Bodycams bei dem Einsatz ausgeschaltet blieben, entsprach der Dienstvorschrift. Die Persönlichkeitsrechte Dramés sollten in der psychischen Ausnahmesituation nicht verletzt werden. „Das Argument halte ich für vorgeschoben“, sagt Behr.

Bei jedem Fall von Suizidversuch müsse die Polizei damit rechnen, angegriffen zu werden. Das Recht auf Beweissicherung wiege dann schwerer als die Persönlichkeitsrechte. „Die beste Lösung wäre es, wenn die Bodycam automatisch beim Ziehen der Dienstwaffe eingeschaltet wird.“
In Thüringen soll die automatische Aktivierung der Bodycams künftig eingeführt werden. Seit dem 31. Dezember 2024 sieht das Polizeiaufgabengesetz vor, dass beim Ziehen der Dienstwaffe die Kamera automatisch aufzeichnet. Bisher werden im Freistaat rund 400 Bodycams noch ohne „Holstersignalauslöser“ (HSA) eingesetzt. An der Auslösetechnik wird derzeit gearbeitet; einzelne Probanden testen die neuen Geräte bereits. Nach Angaben der thüringischen Polizei wäre diese Variante europaweit bislang einmalig. Allerdings handelt es sich bei der Regelung um eine sogenannte Soll-Bestimmung – das bedeutet, dass im Ausnahmefall bei Vorliegen besonderer Gründe von der automatischen Aktivierung abgewichen werden kann.
Die Bodycams ständig mitlaufen lassen?
Für den Anwalt der Mutter von Lorenz A., Thomas Feltes, greift eine Aktivierung der Kamera beim Ziehen der Dienstwaffe zu kurz. „Die sinnvollste Lösung wäre, die Bodycams ständig mitlaufen zu lassen“, sagt der Kriminologe. Anschließend könne entschieden werden, ob die Aufnahmen gespeichert oder gelöscht werden. Der von den Gewerkschaften vorgebrachte Einwand des Datenschutzes ist für ihn kein Hindernis. Denn werde kein Ermittlungsverfahren eingeleitet, werde die Aufnahme ohnehin gelöscht.

Feltes nennt zwei denkbare Varianten: Entweder laufen die Kameras dauerhaft mit, sobald sie aus der Ladestation genommen werden – wobei alle dreißig Sekunden das Vorherige gelöscht wird, sofern es nicht als relevant markiert wurde. Oder aber, was er für Deutschland bevorzugen würde: Die Kameras müssen dann eingeschaltet werden, wenn absehbar ist, dass es zu einer Auseinandersetzung mit Bürgern kommen könnte. In ruhigen Momenten – etwa bei Pausen – könne dagegen auf eine Aufzeichnung verzichtet werden.
Doch der Fall Oldenburg zeige, dass die Polizei nicht wolle, dass solche Konfliktsituationen gefilmt werden. „Nach allem, was wir wissen, würde eine Bodycam-Aufzeichnung zeigen, dass der Beamte von hinten auf den weglaufenden Lorenz geschossen hat“, sagt Feltes.
Ob der Fall Lorenz A. dazu führt, die Regeln für den Einsatz von Bodycams in Niedersachsen zu ändern, ist offen. Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens (SPD) sagte auf Anfrage der F.A.Z., es sei mehr als eine Woche nach dem tödlichen Polizeieinsatz in Oldenburg noch zu früh, um politische oder gar gesetzgeberische Konsequenzen zu ziehen. Allerdings verwies Behrens darauf, dass die niedersächsische Landesregierung bereits an einer Novelle des Polizei- und Ordnungsbehördengesetzes arbeitet und diese so schnell wie möglich auf den Weg bringen will. „Sollte sich auf Grundlage der Ermittlungsergebnisse zum Einsatz in Oldenburg ein deutlicher Handlungsbedarf beim Thema Bodycams ergeben, könnte dieser nach gründlicher Prüfung im weiteren Gesetzgebungsverfahren berücksichtigt werden“, sagte die Ministerin.
„Das steht den Persönlichkeitsrechten der Einsatzkräfte entgegen“
Nach Einschätzung des Bunds Deutscher Kriminalbeamter (BDK) stellt sich die Frage einer generellen Verpflichtung zum Einschalten der Bodycams nicht, da der Einsatz der Kamera gesetzlich geregelt ist und nicht angeordnet werden kann. Es ist demnach vor jedem Einsatz durch die Beamten eine Prüfung vorzunehmen. Festgelegt ist der Einsatz in den jeweiligen Polizeigesetzen der Bundesländer. Es ist eine Maßnahme der Gefahrenabwehr, um Polizisten und andere Personen zu schützen. Es bleibt den Polizisten überlassen, ob sie die Kameras tragen wollen oder nicht. Sie benötigen hierzu auch eine entsprechende Ausbildung.
Die Kameras sind an den Westen angebracht und nehmen automatisch eine Bild- und Tonspur auf, jedoch werden die Aufnahmen (prerecording) je nach Bundesland alle 30 bis 60 Sekunden automatisch gelöscht – es sei denn, der Polizist schaltet die Kamera aktiv ein. Von dem Zeitpunkt an wird das „polizeiliche Gegenüber“ aufgenommen, inklusive der Sekunden zuvor. Vor dem Einschalten muss der Beamte jedoch die Person darüber informieren. Der BDK sieht den Einsatz der Kameras positiv: Gerade das prerecording könne sehr wichtig sein, um den Einsatz umfassend einschätzen zu können. Dirk Peglow, Bundesvorsitzender des BDK, beschreibt einen klassischen Fall: Zwei Streifenbeamte halten ein Auto an für eine Verkehrskontrolle, der Fahrer kurbelt die Scheibe runter, schreit „Scheiß-Bullen“, steigt aus, läuft aggressiv auf die Beamten zu. Die haben dann bereits nach „Scheiß-Bullen“ die Kamera eingeschaltet, sodass schon diese Beleidigung gespeichert bleibt sowie die weitere Sicherung des Mannes.

Ein weiterer Vorteil ist demnach die deeskalierende und somit präventive Wirkung der Kameras. Der Hinweis des Polizisten „Ich schalte jetzt die Kamera ein und nehme Sie auf“ führe oft dazu, dass Personen es sich genau überlegen, ob sie von der Beleidigung weiter in die körperliche Konfrontation gehen, sagt Peglow. Dass es inzwischen Kameras gibt, die automatisch aufzeichnen, sobald die Dienstwaffe gezogen wird, sieht Peglow als große Verbesserung: Gerade bei aggressiven, dynamischen Lagen stehen die Beamten oft unter großem Stress. „Da geht es um Sekunden, und die Kollegen haben dann nicht die Zeit, noch schnell die Kamera einzuschalten. Daher ist die Koppelung der Kamera mit der Dienstwaffe ausdrücklich zu empfehlen.“
Eine genau Auswertung, wie oft die Bodycams in Deutschland eingeschaltet werden, gibt es nicht. Das „Lagebild Bayern zur Gewalt gegen Polizeibeamte“ für das Jahr 2023 zeigt jedoch, dass die Einsätze zunehmen, bei denen Polizisten freiwillig die Kameras einschalten, wenn es zu einer Gefahrensituation für sie kommt. So wurden im Jahr 2022 bei 2445 Fällen von Gewalt gegen Polizeibeamte Kameras mitgeführt. In den meisten dieser Fälle (2153) schalteten die Polizisten die Kameras auch aktiv ein. Diese Anzahl steigt im Jahr 2023: Noch 173-mal öfter wurden die Bodycams eingeschaltet – in 2326 Fällen. Die Zunahme stehe auch in Verbindung mit der steigenden Gewalt gegen Polizeibeamte, davon ist Peglow überzeugt.
Für einen Einsatz der Bodycams spricht sich auch die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) aus – vor allem auch wegen der deeskalierenden Wirkung, wenn der Einsatz angekündigt wird. Der Bundesvorsitzende Rainer Wendt verweist auf eine Studie aus Rheinland-Pfalz zu Teasern. Die Teaser würden vor dem konkreten Einsatz einen lauten Warnton abgeben. 70 Prozent der Attacken seien nicht ausgeführt worden, nur aufgrund der reinen Androhung des Teasers. Strikt dagegen ist die Gewerkschaft jedoch, Polizisten dazu zu verpflichten, die Bodycams situationsunabhängig immer einzuschalten. „Das steht den Persönlichkeitsrechten der Einsatzkräfte entgegen.“
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