Warum die deutsche Krise auch eine Krise des deutschen Designs ist

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In Berlin wurde vor Kurzem eines der letzten Wahlplakate der SPD abtransportiert. Man sah Olaf Scholz darauf und den Slogan „Kanzler für Made in Germany“, aber dieses „Made in Germany“ hing bereits in Fetzen – was ein ganz gutes Bild war für die Situation, in der sich der ehemalige Exportweltmeister Deutschland gerade befindet. Die Nachrichten klingen, als stehe der unmittelbare Untergang bevor: Siemens baut 6000 Stellen ab. Bosch leidet unter Umsatzverlusten und Gewinneinbrüchen, allein in Hildesheim sind 1600 Arbeitsplätze bedroht. Der Gewinn von Audi bricht um 33 Prozent ein, bei Volkswagen fürchten 35.000 Arbeiter um ihren Job, VW-Chef Oliver Blume nennt seine Firma „einen Sanierungsfall“.
Ist das so? Die Automarken machen ja immer noch Milliardengewinne, und die Welt bestellt nach wie vor in Deutschland: 2023 wurden Waren im Wert von 1562 Milliarden Euro exportiert, ein Drittel entfällt auf Autos, Autoteile und Maschinen. Aber die Aussichten sind finster. Die weltweite Krise in der Bauwirtschaft trifft deutsche Hersteller wie Miele hart – denn wo nicht gebaut wird, werden auch keine neuen Elektrogeräte für die Küche gebraucht. Immer wieder wird vor allem die Zurückhaltung auf dem chinesischen Markt für Absatz- und Gewinneinbrüche deutscher Hersteller verantwortlich gemacht. Aber ist das der einzige Grund? Könnte die Krise tiefer sitzen – und auch damit zusammenhängen, wie deutsche Produkte mittlerweile gemacht sind und wie sie aussehen? Könnte es auch am Produkt und nicht an genereller Zurückhaltung liegen, dass etwa Volkswagen von seiner Elektrolimousine ID7 im Januar in ganz China gerade mal 57 Exemplare verkaufen konnte?
Bauhaus-Tradition und Ulmer Schule
Gerade Volkswagen stand lange für robuste, alltagstaugliche und langlebige Produkte; das etwas biedere, aber zeitlose Design gab diesen Qualitäten eine sichtbare Form. Das Design „Made in Germany“ stand in der Tradition des Bauhauses, der Ulmer Schule und war geprägt von Gestaltern wie Dieter Rams, der von 1961 bis 1995 beim Braun-Konzern Leiter der Formgebung war und mit nüchternen, klaren und gut zu bedienenden Produkten den Weltmarkt eroberte.

Die „gute Form“ war nicht nur ein ästhetischer, sondern auch ein ethischer Imperativ, sie sollte nicht weniger als die Gesellschaft „sittlich und sozial erneuern“, wie Robert Bosch es 1927 formulierte. Auch die Werbeslogans luden das Design mit moralischer Bedeutung auf: der höflich gestaltete Opel war „der Zuverlässige“; der Käfer „läuft und läuft und läuft“,: Deutsche Produkte, erzählten Design und Werbung, waren haltbar, verlässlich, kein Bluff, kein Firlefanz, zeitlos und von einer gradlinig-soliden, vertrauenerweckenden Eleganz.
Wer einmal am Griff eines hinreißend aussehenden Smeg-Kühlschranks zerren und einen erheblichen Unterdruck überwinden musste, weiß danach, was er an einem Bosch-Kühlschrank hat: emotionsloses Perfektfunktionieren im sachlichen Gewand. Es fallen einem aus der Hochphase deutscher Gestaltung auf Anhieb etliche Beispiele ein: Die Wagenfeld-Lampe, der Braun-Rasierer, der von Hans Gugelot und Dieter Rams entworfene Musikmöbel Phonosuper SK4 von Braun mit seiner Plexiglasabdeckung, genannt „Schneewittchensarg“; die Bosch-Bohrmaschine; die Kamera Ikonette von Zeiss Ikon; der Porsche 911; der erste freundlich in die Welt schauende VW Golf 1.

Und heute? Tja. Die „gute Form“ ist nicht erst seit der Diesel-Lüge zur wilden Tragödienmaske mutiert. Der aktuelle Golf stiert wie eine ungesunde Mischung aus dem halbwachen Kater Garfield und einem verärgerten Tiefseefisch auf die Straße. Dem grimmigen Panik-Blick entspricht das innere Desaster. Unterm Blech sieht es aus wie am Berliner Katastrophenflughafen BER kurz vor der Eröffnung: Gerade schnitt der neue Golf beim „Auto Motor Sport“- Langzeittest schlechter als alle anderen getesteten Wagen ab, er wirkt nicht wie Bauhaus, sondern wie ein Geisterhaus auf Rädern: Die Tester klagen über Softwareprobleme und plötzliche unerklärbare Geräusche aus den Lautsprechern, der Alarm gehe ohne Grund an, die Klimaanlage falle einfach aus, der Bildschirm werde schwarz, sogar das Lenkrad habe ausgetauscht werden müssen. Das exaltiert grimmige VW-Design wirkt, als wolle es durch optischen Lärm übertönen, was alles nicht funktioniert und was auf technischer Ebene im Verkaufsrausch der letzten Jahre nicht entwickelt wurde: gute Software, fortschrittliche Antriebstechniken.
Die Zeit der klaren, guten Formen ist vorbei
Das Bauhaus-Erbe sei verloren, sagt auch Paolo Tumminelli, Professor für Gestaltung in Köln und einer der wichtigsten Designkritiker Deutschlands. Ein Problem des deutschen Designs beginne schon mit der Luxusstrategie der Hersteller. An einem Auto, das 200.000 Euro kostet, kann man deutlich mehr verdienen als an einem für 20.000 Euro – deshalb hat ausgerechnet in Zeiten des Klimawandels, wo man leichtere und kleinere Autos brauchte, Ford den Fiesta eingestellt und Mercedes Nachfolger für die A- und B-Klasse abgesagt.

„In weniger als 10 Jahren ist der Durchschnittspreis eines Autos von 27.000 auf 42.000 Euro gestiegen“, sagt Tumminelli, bei Mercedes sogar von 51.000 auf jetzt 74.600 Euro. Folge: Es gibt „keine normalen guten Autos für Normalverdiener mehr, keine Kleinwagen, keinen Golf, keinen Käfer“, die Autoindustrie habe „den Sinn für Alltagsbedürfnisse verloren. Sie stellen keine Produkte für normale Menschen mehr her.“ Das Auto wird zum Schwellkörper, entworfen von großen Egos für große Egos. Man könnte lange spekulieren, was das aktuelle Design etwa des riesigen BMW XM über das soziale Milieu und die Gesellschaft aussagt, die solche Autos schätzt; die Kühlerfront signalisiert weithin sichtbar, dass hier jemand kommt, der den öffentlichen Raum nicht als Begegnungs- oder Kommunikationsraum, sondern als Kampfzone voller Fressfeinde betrachtet, die er dank der Häcksleranlage in seiner Kühlerfont aber spielend vertilgen wird.
Im Design dominieren Barock und asoziales Art Déco
Auch bei Mercedes ist nichts übrig vom Bild des souverän-entspannten Fahrers: War das Design früher zeitlos, gradlinig und klar, ein blechgewordenes Bild verantwortungsvoller Eliten in einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft, herrscht jetzt im Sindelfinger Design ein hysterisches, wie Tumminelli es nennt, „Art-déco und Rokoko“. Falsche, üppig verchromte Auspuffblenden, Powerdomes, wo gar keine Power ist, Swarowski-Steine in den Scheinwerfern – aus Mercedes Benz wurde Daimler-Bling. Andere, kleinere Autos sehen dafür seltsam depressiv und erbost aus. Der Volkswagen ID2 schaut mit wulstigen Scheinwerferaugen in die Gegend wie ein unter Atemnot leidender Fisch, den man gegen seinen Willen aus den lichtlosen Regionen der Tiefsee an die Oberfläche zerrte. Will man so jeden Morgen angeschaut werden? Will man viel Geld ausgeben für etwas, das sich bewegen soll, aber total sediert aussieht? Die Studie für den neuen VW ID Every 1 schaut etwas freundlicher, wie ein Polo, der die Backen aufbläst. Wird das reichen?
Wie entwirft man einen Bestseller?
Es ist aber auch gar nicht einfach, neue Technologie gut zu verpacken. Ein Elektroauto muss höher sein als ein normales Auto, weil die Batterien unter den Sitzen liegen; deswegen sieht, wenn man nicht aufpasst, ein Elektroauto wie der VW ID4 von hinten aus wie ein Schwein auf Stöckelschuhen – völlig unproportioniert und so, als habe man ein Auto auf ein anderes gestellt und das Ganze wie ein Sandwich zusammengepresst. Damit die Proportionen wieder hinhauen, muss das Auto breiter werden und größere Reifen bekommen. Die aber verlangen größere Radkästen, die wiederum den Innenraum kleiner machen – so kommen am Ende schwere, enge, teure, überdimensionierte Riesenautos heraus. Wenn die E-Autos dann noch etwas futuristischer als der Rest aussehen sollen, kann es sein, dass ein Flop wie der bananenförmig geschmolzen aussehende Mercedes EQS herauskommt, dem mit seiner plattgehauenen Nase alles Würdevolle fehlt, das Mercedes-Kunden mögen: Keine aufrechte Kühlerfront, „keine Autorität, keine Gradlinigkeit“, meint Tumminelli, alle gestalterischen Würdeformeln, an denen man einen Mercedes erkennt, fehlen. Irgendetwas Großes können die Chinesen aber inzwischen selbst bauen.
Wollen die Chinesen wirklich Autos im Drachen-Design?
Design soll in einer globalisierten Welt für Orientierung sorgen. Dass man einen in Deutschland gefertigten Tesla als amerikanisches und einen in Mexiko gefertigten BMW als deutsches Auto wahrnimmt, liegt auch am Design. Gleichzeitig bestürmen die Marktforscher die Designer, einen Kundengeschmack zu bedienen, der mit der „guten Form“ wenig zu tun hat.
Die Deutschen bauen riesige SUVs mit aggressiven Kühlerfratzen im Drachen-Look, weil die Marktforschung zu wissen glaubt, dass dies den Geschmack chinesischer Kunden träfe. Aber stimmt das? Während das deutsche Design mit immer weniger Erfolg Karikaturen von Drachenmäulern in Chrom gießt, scheinen die Chinesen für ihre Produkte die Rezeptur der „Guten Form“ gekapert zu haben, nachdem schon Apple damit zum Weltmarktführer wurde: Die erfolgreichste Adaption der Design-Philosophie von Dieter Rams waren die intuitiv zu bedienenden, minimalistischen, mit ihren glatten schwarzen Screens hochwertig aussehenden Apple-Produkte, die Chefdesigner Jonathan Ive nach dem Vorbild der Ulmer Schule entwarf. Neue chinesische Produkte, die Telefone und die freundlich geglätteten Elektro-Autos von Xiaomi etwa, folgen ebenfalls Dieter Rams’ Grundsätzen guten Designs, das „unaufdringlich, ehrlich, langlebig, umweltfreundlich und so wenig Design wie möglich“ sein müsse.
Wie geht es weiter?
Die Situation ist absurd: Während deutsche Gestaltungsgrundsätze die Entwerfer in China und Amerika sichtbar beeinflussen, haben sich ausgerechnet deutsche Firmen davon verabschiedet und versuchen sich an barock überdekorierten Metalldrachen und absurden Straßenkreuzern. Andererseits ist diese Verkehrung nicht völlig überraschend – denn es waren schon immer vor allem Ausländer, die das beste „deutsche“ Design entwarfen und mit ihren romantischen Projektionen von „Germanness“ die nationale Produkt-Identität prägten: Das erfolgreichste deutsche Auto aller Zeiten, der Golf, wurde von einem Italiener, Giorgetto Giugiaro, entworfen. Der futuristischste Porsche, der 928, ist ein Werk des Letten Anatole Lapine.

Die elegantesten Mercedes-Limousinen wurden von dem Italiener Bruno Sacco und dem Franzosen Paul Bracq gezeichnet, der nach seiner Zeit bei Mercedes bei BMW mit dem „Fünfer“ und dem „Dreier“ zwei weitere Grundpfeiler deutscher Automythologie erfand. Was als „Made in Germany“ gilt, sind zu großen Teilen wohlwollende Spekulationen fremder Gestalter darüber, was „typisch deutsch“ sein könnte.
Ist „das“ deutsche Design an sich in der Krise? Natürlich nicht. Es gibt großartige, gerade junge Designer, die in kommerziellen Nischen Wegweisendes schaffen. Nur ausgerechnet dort, wo es am sichtbarsten wird, im Auto- und Produktdesign, ist das aktuelle Design ein Desaster. Wie kann es weitergehen? Und ist Formgebung überhaupt noch relevant? Bosch ist erfolgreich in eher unsichtbaren Geschäftsfeldern, wo es nicht um Produktgestaltung fürs Auge des Konsumenten geht, etwa bei mikroelektromechanischen MEMS-Sensoren für Smartphones und Ohrhörern, bei denen die Firma einen Anteil von einem Fünftel des Weltmarkts hält. Gerade hat Miele gezeigt, dass man mit gut gestalteten Apps ebenso Geld verdienen kann wie mit schön geformten Elektrogeräten: mit der App Wash des Start-ups Miele Operations & Payment Solutions können Nutzer in Waschsalons eine freie Waschmaschine oder einen Trockner buchen und bezahlen.
Herausforderung für die Politik
Wenn das Automobil das folgenreichste Produkt des 20. Jahrhunderts ist, dann ist es für das 21. Jahrhundert das Mobiltelefon. Dort passiert viel: Vor einigen Jahren war es undenkbar, dass die Tätigkeit „googeln“ je wieder verschwinden würde; „googeln“ war im postdigitalen Sprachgebrauch identisch mit Informationsbeschaffung. Seit „ChatGPT“ wird stattdessen viel öfter die KI gefragt – und seit dem chinesischen „Deep Seek“ ist auch ChatGPT unter Beschuss. Könnte es als Nächstes in Europa oder sogar Deutschland gelingen, Chatbots zu entwickeln, die so einfach, zuverlässig und überzeugend zu benutzen sind wie einst ein Braun-Rasierer oder ein VW Golf – und so erfolgreich?
Man kann nur hoffen, dass die hiesige Politik die Bedingungen dafür schafft, in Zukunft die besten Entwerfer und Erfinder nach Europa zu bringen oder hier zu halten, statt sie ins Silicon Valley auswandern zu lassen, wo sie die goldenen Designregeln des „Made in Germany“ in den Dienst einer neuen Digitaloligarchie stellen.
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