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#Was hält uns zusammen?

Was hält uns zusammen?

Betrunken auf dem Fußweg vor dem Gasthof, in Badelatschen auf der Straße, im Wald oder in der Garage, um sich das Leben zu nehmen: Die ehemaligen NVA-Offiziere, die Jan nach der Wende in seinem Heimatstädtchen in der Oberlausitz sieht, kommen dem jungen Mann wie Helden vor. Wie Helden, die der berühmte Sohn des Nachbarorts, Georg Baselitz, in seiner berühmten Serie aus den Sechzigerjahren gemalt hatte: Kriegsheimkehrer, Verlorene, Zerstörte.

„Es schien, als wäre der Moment, den die Gemälde zeigten, jener Augenblick, in dem die Figuren, die Umgebung, die Landschaft zum letzten Mal als Ganzes zu sehen waren“, schreibt Lukas Rietzschel: „Eine Erschütterung, und alles würde auseinanderfallen.“ Seinen ganzen zweiten Roman scheint der Schriftsteller, 1994 in der Oberlausitz geboren, diesem letzten Moment vor dem Auseinanderfallen zu widmen: Sein einer Protagonist, Jan, arbeitet in einem Krankenhaus, das viele Jahre nach der Wende langsam dichtgemacht und regelrecht von der Natur zurückerobert wird. Nicht nur der Plattenbau aus DDR-Zeiten, auch das Einkaufszentrum außerhalb, gebaut, um die Leute nach der Wiedervereinigung in der Gegend zu halten, ist inzwischen aufgegeben worden. Was hält den Ort, was die Gesellschaft noch zusammen?

Der andere, Günter Kern, kämpft in der DDR der Achtziger um Gerechtigkeit für seinen Sohn, der nach einem Unfall mit Fahrerflucht im Koma liegt, und droht an einem Anwalt aus der Nachbarschaft, an seinem Chef, an seiner Geliebten den Verstand zu verlieren. Sein Bruder Georg war in Ostberlin Ende der Fünfzigerjahre von der Kunsthochschule geflogen – „zu unbegabt, zu faul, keine Ahnung“, wie er Günter erklärte – und wechselte in den Westteil der Stadt. Schließlich wurde er als Maler berühmt, der seinen Künstlernachnamen dem zweiten Namensteil seines Geburtsorts entlehnt hat und seine Motive gleichsam auf den Kopf stellte.

„Ich weiß noch, wie Vati und die ganzen anderen Männer aus Deutschbaselitz aus dem Krieg kamen“, lässt Rietzschel Georg erzählen, als Günter ihn in Westberlin besucht, wenige Tage vor dem Mauerbau: „Es muss doch möglich sein, sich von einer Ideologie zu lösen, ohne in die nächste reinzuschlittern.“ Zurück in der Lausitz plant auch Günter seine Flucht, lässt sich entmutigen, bleibt bei den Eltern. Ihm wird wegen seiner „ungenügenden politisch-ideologischen Reife“ das Studium verwehrt, er wird Fahrlehrer, im späteren Leben ist er von Stasispitzeln geradezu umstellt. Im Jahr der Wiedervereinigung fährt er mit dem ersten eigenen Wagen, einem Westmodell, gegen einen Baum und stirbt.

Lukas Rietzschel: „Raumfahrer“. Roman. dtv, München 2021. 288 S., geb., 22,– €.


Lukas Rietzschel: „Raumfahrer“. Roman. dtv, München 2021. 288 S., geb., 22,– €.
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Bild: dpa

Es ist Günters Sohn Thorsten, mit dem sich der Lebensweg von Lukas Rietzschels anderer Hauptfigur Jan Jahrzehnte später kreuzt. Die Physiotherapie im Krankenhaus, ein paar Anspielungen, ein Karton mit Dokumenten, mit denen Jan zunächst nichts anfangen kann und auf die sein Vater überraschend allergisch reagiert, ein Angriff: Was die beiden biographisch miteinander verbindet, entwickelt der Autor nach und nach. Was Rietzschel an ihnen – an Thorsten als Kind der DDR, Jan als Kind der Wendezeit und auch an Günter als Kind der Nachkriegszeit – zeigt, was er in vielen Szenen entfaltet, von Ära zu Ära, von Figur zu Figur wechselnd, verleiht dem Roman beinah bedrückendes Gewicht: „Gebäude lassen sich abtragen und aufbauen, Erinnerungen nicht. Schmerzen nicht. Ob tatsächlich empfunden oder eingebildet. Schmerzen wie Steine, weitergereicht in einer Menschenkette von Hand zu Hand, um sie abzuklopfen und eventuell wiederzuverwenden.“ Die dem Roman den Titel gebenden Raumfahrer sieht Jan in seinen Eltern: Während sie in einer Art luftleerem Raum „schwebten, hatte sich die Welt schon ein Dutzend Mal weitergedreht“.

In einem Roman, in dem nahezu jede Figur mit den Zwängen, Fallen und Verhärtungen ihres Lebens kämpft, nimmt sich der Autor eine erstaunliche Freiheit heraus: Lukas Rietzschel leiht sich Namen und biographische Versatzstücke, die hierzulande Klang und Assoziationsraum haben, und erfindet dazu Dialoge und Briefe. „Sofern der Roman aufgreift oder auch nur tangiert, was es in der Realität gibt oder gab, muss es sich dabei um einen Zufall handeln“, stellt Lukas Rietzschel seinem Buch voran. Ihm folgen lässt er allerdings seinen Dank an einen wirklichen Günter Kern, ebenfalls Bruder eines berühmten Malers namens Baselitz: „Er hat mir Einblicke in Akten, Briefe und Leben gegeben und dabei zugesehen und geduldet, wie ich sie arrangierte, umdichtete und nach meiner Vorstellung dramatisierte.“

In anderen Annäherungen an Gestalten, die tatsächlich leben oder gelebt haben, wählen Schriftsteller diskret – wie Theresia Enzensberger in ihrem Roman „Blaupause“ – die Perspektive einer erfundenen oder undokumentierten Person der Geschichte, oder sie geben ihren Figuren eigene Namen – wie Siegfried Lenz in seiner „Deutschstunde“ – und überlassen es der Leserschaft, den Bezug zu wirklichen Personen herzustellen. Lukas Rietzschel überlässt seine Leserschaft der Frage, wie sich in seinem Roman Dokument und Dichtung unterscheiden lassen. „Ob tatsächlich empfunden oder eingebildet“: Die Erinnerungen und die Schmerzen, die der Schriftsteller Steinen gleich in einer Menschenkette weitergereicht sieht, damit sie abgeklopft und eventuell wiederverwendet werden, hat er um einige erfundene Findlinge bereichert.

Lukas Rietzschel: „Raumfahrer“. Roman. dtv, München 2021. 288 S., geb., 22,– €.

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