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#Wie alles wieder anfängt

„Wie alles wieder anfängt“

Jürgen Habermas will die sozialen Medien auf Begriffe bringen. In der sozialwissenschaftlichen Zeitschrift „Leviathan“ veröffentlichte er im vergangenen Jahr „Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit“. Jetzt wird der Aufsatz von Suhrkamp noch einmal in Buchform gedruckt, in einem broschierten Band mit dem Titel „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“. Eine dreistellige Seitenzahl wird erreicht durch Beifügung zweier kürzerer Texte, eines In­terviews von 2018 und der Originalfassung des Vorworts zu einem im Juni erschienenen englischen Interviewband, in dem „führende Denker“ wie Hauke Brunkhorst und Gertrud Koch sich über „Habermas und die Krise der Demokratie“ äußern.

Patrick Bahners

Feuilletonkorrespondent in Köln und zuständig für „Geisteswissenschaften“.

Der neuerliche „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, durch den Habermas sich zur Überprüfung der Thesen seines berühmten, vor sechzig Jahren veröffentlichten Buches veranlasst sieht, soll durch den Auflagenverlust der Zeitungen und die damit korrespondierende Ausbreitung des Austauschs von politischen Neuigkeiten auf „Plattformen“ im Internet wie Facebook und Twitter verursacht sein.

„Der Zweiundneunzigjährige selbst be­sitzt keinen Twitter-Account“, merkte Oliver Weber an, als er den Lesern der F.A.Z. vom 27. Oktober 2021 den Aufsatz vorstellte. Auch nach seinem dreiundneunzigsten Geburtstag hat Habermas sich nicht bei Twitter angemeldet (jedenfalls nicht unter seinem Namen). Dabei pflegte er in seinen kleinen politischen Schriften seit jeher eine Rhetorik der Überspitzung, wie sie bei Twitter (im Unterschied zu Facebook) die vorgeschriebene Kürze fördert und vielleicht sogar erzwingt. Und so endet das nachgedruckte Vorwort und damit das ganze Buch mit zwei in Form und Inhalt furiosen Sätzen, die einen perfekten kurzen Twitter-Faden er­geben hätten. Gerne brächte man als Leser indes zum besseren Verständnis der Sätze das wichtigste Mittel der Aufklärung in der nicht idealen, aber zu oft schlechtgeredeten Sprechsituation von Twitter zum Einsatz: die Reply oder Rückfrage.

Ohne Türhüter geht’s nicht

Der erste Satz lautet: „Gerade das beunruhigende Phänomen einer Verbindung des traditionellen Rechtspopulismus – ‚Wir sind das Volk‘ – mit der libertären Selbstbezogenheit ausgeflippter Verschwörungstheoretiker, die ihre subjektiven Freiheitsrechte gegen eine imaginäre Unterdrückung durch einen angeblich nur scheindemokratischen Rechtsstaat verteidigen, ist Grund genug, den Spieß umzudrehen.“ Ausgeflippt! Das Tolle an der drastischen Wortwahl ist, dass auch der Autor fast ausgeflippt klingt. Mit der prophetischen Kraft der Sozialkritik wird Ha­bermas das irgendwann Ende letzten Jahres geschrieben haben, als Ulf Poschardt (heute kaum mehr vorstellbar) noch nicht komplett abgedreht war und Ulrike Guérot ihre Lehrkanzel an der Bonner Alma Mater von Habermas mutmaßlich noch nicht bestiegen hatte. Nun aber die Rückfrage: Welcher Spieß soll umgedreht werden?

Die Formulierung dreht schon einmal mit, denn das Bild ist beliebt in den Spinnerzirkeln der Möchtegernrevolutionäre. Hilft der zweite Satz weiter? „In den insgesamt wachsenden kapitalistischen Gesellschaften unserer, wie sich heute herausstellt, nicht besonders stabilen Demokratien entsteht dieses überraschende Widerstandspotential und lässt das politische Sys­tem von innen zerbröseln, wenn auf der Basis wachsender sozialer Ungleichheiten der Zerfall der politischen Öffentlichkeit nur weit genug fortgeschritten ist.“ Wir (bei Twitter @PBahners) ver­stehen das vorsichtig und provisorisch so: Wenn das „Widerstandspotential“, das Energiekondensat aller utopischen Träume der kritischen Theorie, heute in der sozialmedialen Gegenwelt der Rechten steckt, dann muss es doch umgekehrt auch möglich sein, eine ähnliche Unruhe für die Verteidigung der politischen Öffentlichkeit zu mobilisieren.

Kommt es nicht, mit Nietzsche gesprochen, einer mehr als Münchhausenschen Verwegenheit gleich, sich von einer solchen List der Vernunft eine Stabilisierung der De­mokratie zu erhoffen? Die Kritik am Buch sollte am Empirischen ansetzen. Habermas überschätzt die Spontaneität der sozialen Medien. Plattformen er­mächtigen jedermann zum „spontanen Austausch“ über „spontan gewählte Themen“ in „spontanen Beiträgen“ und entmachten die Gatekeeper der Presse. Aber dort, wo Populisten und Verschwörungstheoretiker sich verbünden, geht ohne Türhüter gar nichts ab. Die Rechten haben ihre eigenen Leitmedien, von Fox News bis „Tichys Einblick“. Schwer zu sagen, wie man die Chancen des Aufstands ab­schätzen soll, den die Poschardtisten gegen das politische System anzetteln, im Namen der Dekolonisierung der Lebenswelt. Aus Gründen des eigenen Theoriedesigns, der unglücklichen Präferenz fürs Spontane, romantisiert Habermas die Gegenöffentlichkeit.

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