#Wir sind keine Veganer, sondern bitterarm
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„Wir sind keine Veganer, sondern bitterarm“
Da die Medien in der Türkei größtenteils vom Palast gelenkt sind, haben die Menschen Mühe, Tatsachen in Erfahrung zu bringen. Bis auf ein paar kleine Zeitungen und drei, vier Websites gibt es keinen Kanal zur Information breiter Gesellschaftsschichten. Türkischsprachigen Diensten ausländischer öffentlich-rechtlicher Publikationsorgane gelingt es aber doch, die Belagerung der Presse zu durchbrechen.
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Einer dieser Sender ist die Deutsche Welle. Jüngst führte dort ein Bericht die Auswirkungen der Wirtschaftskrise vor Augen. Darin hieß es, in den ersten acht Monaten dieses Jahres sei gegen rund 600.000 Personen Vollstreckung angestrengt worden, weil sie außerstande sind, ihre Schulden zu zahlen. Wer in der Not Schulden macht oder einen Kredit aufnimmt und, kann er diese nicht begleichen, zur Tilgung neue Kredite aufnimmt, hat Schwierigkeiten.
Er glaubt es einfach nicht
Zu den Menschen, die in der Schuldenspirale stecken, gehört auch eine Vierundsiebzigjährige. Nach vierzig Jahren Arbeit ging sie in Rente. Sie lebt allein, musste aber Schulden machen, da sie mit ihren 245 Euro Rente nicht auskommt: „Ich habe die Schulden mit neuen Schulden beglichen, dann beantragte die Bank die Vollstreckung. Ich komme nicht über die Runden. Manche Tage habe ich nicht genug zu essen. Ständig rufen Banken an, ich gehe nicht mehr ran. Ich bin völlig fertig. Ich würde die Schulden ja bezahlen, aber ich habe nicht die Mittel dazu.“ Wie es der Rentnerin erging, erfuhren wir nicht aus den vom Palast kontrollierten Medien. Ebenso wenig, wie der Fahrer Mesut Ince, der an den Bus herantrat, aus dem heraus Erdogan die Bevölkerung grüßte, klagte, er könne kein Brot mehr heimbringen. Obwohl er Mitglied der AKP ist, fand er den Mut, seine wirtschaftliche Not Erdogan ins Gesicht zu sagen. Erdogans Antwort zeigte, wie weit entfernt der Palast von der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung ist: „Das kommt mir ein bisschen übertrieben vor.“ Dazu reichte er dem Mann eines der Pakete, die er gerade verteilte: Er solle den Tee genießen. Was meinen Sie, welche Meldung die Palast-Medien dazu brachten? Vor der Kamera der zum Propagandabulletin mutierten Nachrichtenagentur Anadolu musste Mesut Ince folgende Erklärung ablesen: „Meine Worte sind verdreht worden. Dass wir kein Brot heimbringen können, habe ich in übertragenem Sinn gemeint. Wir stehen weiter an der Seite von Staatspräsident Erdogan.“
Bülent Mumay
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Bild: privat
Mit solchen Propagandaaktionen versucht die Regierung, die Realität auf den Kopf zu stellen. Doch sie lässt sich nicht verheimlichen. Die Bevölkerung spürt die Auswirkungen der Krise bis ins Mark. Nach Berechnungen von Wissenschaftlern liegt die Inflation viermal höher als von der Regierung angegeben. Wer den Mindestlohn verdient, konnte sich zu Jahresbeginn dafür 2324 Brotlaibe kaufen, jetzt nur noch 1550. Die Lage ist so schlimm, dass sogar die mit Erdogan koalierende, ultranationalistische MHP für Bürger, die kein Brot mehr kaufen können, die Kampagne „Brot in der Tüte“ auflegte: An Ständen auf großen Plätzen wurde gratis Brot verteilt.
Das gefiel Erdogan natürlich nicht. Sein Statement vor den Kameras lautete: „Gibt es heute in der Türkei irgendjemanden, der kein Brot heimbringen kann? Glaubt ihr das? Wir sind ein Land, dem es mit am besten auf der Welt geht.“ Eine erwartbare Reaktion, denn er persönlich leidet ja nicht unter der Krise. Die Leute sind auf Brot in der Tüte angewiesen, das Budget für seine Paläste aber wurde um 273 Prozent erhöht.
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