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#Wo man sich nicht in die Tasche lügt

Unterwegs mit Migranten: Das Theater Osnabrück zeigt die Oper „Fremde Erde“ von Karol Rathaus aus dem Jahr 1930. Ein starkes Stück.

Wo man sich nicht in die Tasche lügt

Dem politischen Kitsch, der seit geraumer Zeit an den Opernbühnen dem Publikum als Selbstberuhigungspille und Globalisierungssündenablass verabreicht wird, stellt das Theater Osnabrück derzeit eine eminent politische Oper entgegen, die erhebliche Wucht und dazu noch Intelligenz besitzt: „Fremde Erde“, 1930 von Karol Rathaus komponiert.

Es ist kein Stück, dem man das Flüchtlingsdrama unserer Zeit gewaltsam überstülpen müsste, wie es Milo Rau mit Mozarts „Titus“ ohne Rücksicht auf ästhetische Verluste in Genf getan hat. „Fremde Erde“ berichtet von sich aus über die moderne Armutsmigration im 20. Jahrhundert. Die Oper vernebelt die knallharten ökonomischen Ursachen für diese Migration nicht durch Kulturalistik oder Gendertheorie. Vielmehr verblüfft sie auf diesem Feld gerade durch eine ungewöhnliche Konstellation von Geschlecht und Herrschaft: mit einer Frau als Kapitalistin, die mitleidlos die Männer in ihrer Salpetermine krepieren lässt. Wer sich so etwas ausgedacht hat? Eine Frau: die Librettistin Kamilla Palffy-Waniek. Sie wusste offenbar noch, dass Herrschaft vor allem ans Eigentum von Produktionsmitteln geknüpft ist.

Auf nach Südamerika

Auf einem Schiff sind verarmte Osteuropäer auf dem Weg nach Südamerika. Unter ihnen der junge Semjin mit seiner Verlobten Anschutka und deren Vater Guranoff. Sie folgen den Versprechungen eines Arbeitsagenten und heuern in der Mine von Lean Branchista an. Die Besitzerin ist von Semjin auch erotisch fasziniert und bahnt allmählich, vom Aufseher Esteban beargwöhnt, ein Verhältnis hierarchischer Sexualität zu ihm an.

Das zerrüttet dessen Beziehung zu Anschutka, aber auch die Klassensolidarität innerhalb der Proletarierschaft. Der Versuch Semjins, seine Chefin durch Mitleid zur Änderung der Produktionsbedingungen zu bewegen, endet mit einer Eskalation, die beweist, dass eine Kapitalistin zwar eine liebe Frau sein mag, sich aber als Kapitalistin nicht ändern kann, ohne aufzuhören, eine Kapitalistin zu sein. Semjin wird verstoßen. Er strandet in New York – der Regisseur Jakob Peters-Messer lässt ihn zu Füßen der Freiheitsstatue liegen, während dahinter ein Lichthalbkreis in den Farben des Regenbogens leuchtet. Freiheit ist hier immer nur die Freiheit der Besserverdienenden und Klassenbewusstsein eine Idee, die vom egoistischen Alltag ebenso wenig gedeckt wird wie die historische Mission des Proletariats.

Musik spielt in diesem Drama eine doppelte Rolle. Der Gesang ist es, über den sich Semjin und Lean ineinander verlieben, jeweils fasziniert von der fremden Stimme. Doch Musik kann zwar Menschen verbinden, nicht aber Verhältnisse ändern, selbst wenn sie sie zum Tanzen bringt. Rathaus – ein polnischer Jude aus Ostgalizien, mit Joseph Roth befreundet, selbst Schüler von Franz Schreker – konfrontiert seine feinnervig angespannte, schrundige Tonsprache mit amerikanischer Unterhaltungsmusik. Er lässt ukrainische, polnische, weißrussische und litauische Volksweisen tonal verfremdet und ohne nostalgische Verheißungen anklingen; nur die orchestralen Klangfarben künden noch, sinnlich stark unter dem inspirierten Dirigat von Andreas Hotz, vom vertraut-verträumten Duft der Heimat.

Musikalischer Erwartungshorizont

Es ist die kulturindustrielle Konfektion des kulinarischen Jazz und des urbanen Tangos, die hier auf die Migranten so attraktiv wirkt, wie Hans Magnus Enzensberger es 2015 in seinen „Versuchen über den Unfrieden“ mit Blick auf die kommerzielle Werbung und die Menschen der Zweiten und Dritten Welt beschrieb: Sie erscheint als Verheißung, als „zuverlässige Beschreibung einer möglichen Lebensweise. Sie bestimmt zu einem guten Teil den Horizont der Erwartungen, die sich mit Migration verbinden“. Das Osnabrücker Programmheft zitiert aus diesem Text, der um so vieles nüchterner und klarer ist als das Freiheitspathos, mit dem man sich – als angeblichem Motiv weltweiter Migration – diesen Sommer bei den Salzburger Festspielen anlässlich von Jan Lauwers’ Inszenierung der „Intolleranza 1960“ von Luigi Nono in die eigene Tasche log.

Die Regie von Jakob Peters-Messer holt die Geschichte zwar von 1930 in unsere Zeit, versagt sich aber jeden Kurzschluss mit Menschen im Schlauchboot auf dem Mittelmeer oder den Förderbedingungen seltener Erden in Afrika, die ja für Anhänger der Elektromobilität von höchster Relevanz wären. Viel mehr Energie wird in die Ausarbeitung menschlicher Konflikte vor dem Hintergrund ökonomischer Verhängnisse investiert. Jan Friedrich Eggers zeichnet Semjin als verstörten Mann, der gerade durch seine Einsicht in die Verhältnisse an ihnen verzweifelt. Anders als für die anrührend zarte, der Wirklichkeit wehrlos ausgesetzte Olga Privalova als Anschutka ist für ihn Nostalgie kein Ausweg mehr. Susann Vent-Wunderlich kann stimmlich mit ihrem reichen, wohlklingend-einnehmenden Sopran genau jenes Charisma freisetzen, dem Semjin verfällt. Der Chor, einstudiert von Sierd Quarré, stemmt sängerisch enorme Schwierigkeiten und zeigt zudem Lust an einem individualisierten Spiel.

Wichtige Wiederentdeckung

Obwohl die Sprache des Librettos, gemessen am Sujet, etwas behäbig wirkt, der Verlauf der Geschichte schnell vorhersehbar ist und manche Szene entbehrlich scheint, schafft es Andreas Hotz als Dirigent mit seiner ebenso schnellen wie scharfen Auffassungsgabe, daraus eindringliche Kunst zu machen, die von der musikalischen Intensität lebt.

Eine wichtige Wiederentdeckung durch die Dramaturgin Juliane Piontek. Dass das Theater bei einer Vorstellung nach der Premiere, mitten in der Woche, üppig gefüllt ist mit Menschen zwischen achtzehn und achtzig Jahren, zeigt, dass der bisherige Intendant Ralf Waldschmidt seinem jetzt glücklich gestarteten Nachfolger Ulrich Mokrusch eine funktionierende Beziehung zwischen Theater und Stadtgesellschaft hinterlassen hat.

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