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#Zerstobene Revolution

Zerstobene Revolution

Die anhaltende Beliebtheit von Podcasts kommt auch den Radiosendern zugute. In den Listen der meistabgerufenen Hörstücke bei Spotify oder iTunes befinden sich neben Nachrichten-Briefings, den Plaudereien von Prominenten und haufenweise „True Crime“ erstaunlich viele Wissens-Formate, weit vorne die vom SWR, BR und dem Deutschlandfunk. Auf dem Weg zur Arbeit oder in einer ruhigen Minute zu Hause vertiefen Podcast-affine Menschen offenbar gern ihr Wissen über Erasmus von Rotterdam, „Das Opfer in der Religion“ oder „Schwimmende Architektur“. Diese halbstündigen Bildungshappen sind meist nach einem ähnlichen Prinzip gebaut. Sie beginnen mit stimmungsvoller Musik, anschließend umkreist eine betont sachliche Erklärstimme, unterbrochen von Zitaten und Expertenmeinungen, das Thema der Sendung. Das ist einfach, aber effektiv.

Uwe Ebbinghaus

Man kann diese Podcasts abonnieren und die Beiträge auf unterschiedlichen Plattformen systematisch durchhören. Dabei stößt man zuweilen auf längere Hörstücke. Sie sind komplex, subjektiv, kreativ, lassen Originaltönen Raum. Sie wollen nicht in erster Linie Wissen vermitteln, sondern Einblicke in Zusammenhänge, in Übergangsphänomene geben.

So gerät man bei SWR Wissen etwa in eine Produktion wie „Berg des Leides, Berg der Hoffnung. Sinnsuche im Kloster Mont Sainte Odile“. Der Autor Martin Durm öffnet in seinem Kloster-Gästezimmer den Kleiderschrank – und es strömt ihm der intensive Geruch seiner katholisch geprägten Kindheit entgegen. Satz für Satz zieht Durm den Hörer mit seiner markanten, etwas desillusioniert klingenden Stimme von der Schilderung des klösterlichen Alltags hinüber in eine faszinierende Parallelgeschichte: Wie konnte es ausgerechnet an dem seit Jahrhunderten verehrten heiligen Berg der Elsässer, an dem seit 1931 ununterbrochen gebetet wird, zu dem verheerenden Flugzeugunglück des Jahres 1992 kommen? Fast neunzig Menschen starben am Odilienberg – einige von ihnen hätten vielleicht gerettet werden können, doch im nahe gelegenen Kloster hatte man von dem Unglück nichts mitbekommen. So wird in dem Hörstück ganz nebenbei die alte Frage nach der Gerechtigkeit Gottes gestellt. Produktionen wie diese gehören in eine eigene Radiokategorie – in die des „Features“, das in den dreißiger Jahren von der BBC geprägt wurde und das Radiomacher gern „Königsdisziplin“ nennen.

Seit 2010 laufen ausgesuchte Produktionen der Landesrundfunkanstalten unter der Dachmarke „ARD-Radiofeature“. Pro Jahr gibt es hier nur neun Beiträge, die der Reihe nach bei den beteiligten Sendern ausgestrahlt werden, oft zu ungünstigen Sendezeiten. Doch auf den Podcast-Plattformen und in den Mediatheken der ARD sind sie mit dem Suchwort „Radiofeature“ leicht zu finden. Eigentlich dürfen sie nur ein Jahr vorgehalten werden, zu besonderen Anlässen werden aber auch jüngere Genre-Klassiker wiederveröffentlicht. Aktuell findet man die herausragende Produktion „Neun Stockwerke neues Deutschland“ von Reinhard Schneider, in der fast nur Originaltöne von Bewohnern eines Hochhauses in Gladbeck zusammengeschnitten wurden. Dieses Feature ist eine Art Liebeserklärung an die gesprochene Sprache und zugleich kann man seine durchdachte Komposition, den spielerischen Einsatz von Musik und Geräuschen wie bei einem Hörspiel genießen. Nicht zu unterschätzen ist der Erkenntnisgewinn: Das Erstarken der AfD, soziale Konflikte, die durch massive Zuwanderung entstehen – Phänomene wie diese sieht man, gerade weil man gezwungen ist, den Bewohnern der Randlage intensiv zuzuhören, anschließend mit anderen Augen.

Das neueste, an diesem Mittwoch ausgestrahlte ARD-Radiofeature ist die Produktion „Ägypten unter Al-Sisi“ von SWR-Redakteur Martin Durm, der in den neunziger Jahren Hörfunk-Korrespondent in Kairo war und die Revolution des Jahres 2011 verfolgte. Das „Feature einer zerschlagenen Revolution“, wie der Untertitel lautet, beginnt mit einer flüsternden Stimme, die in gebrochenem Englisch die Hoffnungen des Aufstands schildert. „It was Utopia“, sagt sie, immer noch schwärmerisch. Mit Hilfe von Originaltönen („Wir waren wie in Wärme gehüllt“) und historischen Aufnahmen taucht der Hörer in das revolutionäre Gemeinschaftsgefühl auf dem Tahrir-Platz ein, wird durch Kommentare und Analysen immer wieder herausgerissen, um allmählich einen größeren Überblick zu gewinnen. Auch die Berichterstatter hatten sich 2011 von der Euphorie zunächst mitreißen lassen, zu spät erkannten sie die neuen Machtverhältnisse, wie Martin Durm eingesteht. „Mubarak war ein Diktator, aber er ließ uns wenigstens Luft zum Atmen“, sagt ein Aktivist von damals. Heute reicht ein kritischer Kommentar auf Facebook, um verhaftet zu werden. Das Fazit Durms ist entmutigend: Ägypten ist „eine der härtesten Militärdiktaturen im Nahen Osten“, in den Gefängnissen sitzen Zehntausende politische Häftlinge. Doch trotz schwerer Menschenrechtsverletzungen wird das Regime auch von Deutschland unterstützt.

Mit Auslandsreportagen wie dieser behauptet das Feature seine Sonderstellung im Radiojournalismus. Dass es neuerdings auf allen möglichen Kanälen so leicht zu finden ist, ist ein echter Gewinn. Es sollte mehr davon geben.

SWR2 sendet Ägypten unter Al-Sisi. Feature einer zerschlagenen Revolution am Mittwoch um 22.03 Uhr.

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