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#Zum Tod von Annemarie Pieper

Sie forschte zu Schelling und Nietzsche, war eine der ersten Frauen, die in die Männerdomäne der philosophischen Ordinarien einbrach, und schrieb für ein breites Publikum. Nun ist Annemarie Pieper mit 83 Jahren gestorben.

Für Eitelkeiten war in ihrem Leben kein Platz, obwohl sie allen Grund dazu gehabt hätte, stolz auf einen akademischen Werdegang zurückzublicken, der schon allein deshalb so besonders war, weil sie sich als Frau in der Philosophie behauptete, einer Disziplin, in der das weibliche Geschlecht noch bis vor wenigen Jahrzehnten keine Rolle spielte, keine Rolle spielen durfte. Die 1941 in Düsseldorf geborene Annemarie Pieper hat sich davon nicht beeindrucken lassen und ist einen von ihr durchaus als steinig empfundenen Weg gegangen, der sie auf Umwegen in Männerdomänen ankommen ließ.

1967 wurde sie in Saarbrücken mit einer Arbeit über Søren Kierkegaard promoviert; fünf Jahre später legte sie mit Anfang dreißig in München ihre Habilitation vor, in der sie sich neben der Existenzphilosophie einem weiteren ihrer Spezialgebiete zuwandte: der Ethik. Eine junge Frau, die sich anschickte, eine Professorenstelle zu erlangen, galt damals als exotische Erscheinung. Des Spotts von Männern, die dachten, das Denken für sich gepachtet zu haben, und das Wort „Philosophin“ für eine sprachliche Fehlschöpfung hielten, durfte sie sich sicher sein. Es dauerte einige Jahre, bis 1981, ehe sie die Berufungshürden überwand und einen Ruf an die Universität Basel erhielt, auf den Karl-Jaspers-Lehrstuhl.

Bitte mit silberner Krawatte

Mit der ihr eigenen, nicht zur Larmoyanz neigenden Frische hat sich Annemarie Pieper an ihren Sonderstatus als einzige Frau unter männlichen Professoren erinnert: „Fast alle Briefe waren an Herrn Prof. Annemarie Pieper gerichtet, und in sämtlichen Einladungsschreiben wurde ich aufgefordert, zum festlichen Anlass meine Gattin mitzubringen. Bezüglich der Kleiderordnung zum Dies academicus lautete die schriftliche Anweisung des Rektorats, die Professoren hätten Talar oder schwarzen Anzug und silberne Krawatte zu tragen. Meine Rückfrage, ob ich Krawatte durch eine Perlenkette ersetzen dürfte, wurde keiner Antwort für würdig befunden.“

Annemarie Pieper ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Bei Studenten erfreute sie sich großer Beliebtheit, zumal ihr unprätentiöses Auftreten befreiend wirkte und sie keine Probleme hatte, über die Unverständlichkeit eines Derrida-Textes in lautes Lachen auszubrechen. Neben Kierkegaard galt ihr Interesse Albert Camus, den die akademische Philosophie seinerzeit nicht für satisfaktionsfähig hielt. Sie forschte zu Schelling und Nietzsche und legte, wenn sie publizierte, Wert darauf, klar formulierend ein breites Publikum zu erreichen.

Abstand zu Dogmatismen

Bücher wie „Gut und Böse“ oder „Einführung in die philosophische Ethik“ erfuhren etliche Auflagen, und sie kannte überdies keine Scheu, sich neue Terrains zu erschließen. Philosophisch sei sie „männlich sozialisiert“ gewesen, sagte sie in einem Interview, sodass ihr die Lektüre von Judith Butler oder Luce Irigaray die Augen geöffnet habe. Ein Buch wie „Aufstand des stillgelegten Geschlechts. Einführung in die feministische Ethik“ (1993) war Ergebnis dieser nie zum Dogmatismus neigenden Neuorientierung im Denken.

Im Jahr 2001, nach über dreißig Jahren Lehre und Forschung, vollzog sie einen „harten Schnitt“. Mit sechzig Jahren verabschiedete sie sich von der universitären Bühne – ein Akt, der bei ihren männlichen Kollegen blankes Unverständnis hervorrief. Ihr Bemühen, die philosophischen Kernfragen mit dem Alltagsleben der Menschen und den drängenden gesellschaftlichen Problemen zu verknüpfen, setzte sie nun auf andere, höchst publikumswirksame Weise um. Sie hielt Vorträge in Buchhandlungen und an Volkshochschulen, trat als Gast im Rundfunk und in der „Sternstunde Philosophie“ des Schweizer Fernsehens auf, schrieb Kolumnen, denen kein Alltagsthema zu banal war, um nicht philosophisch erörtert zu werden, setzte alles daran, Themen wie „Sinn“ und „Glück“, aber auch die Folgen der Corona-Epidemie für den Kapitalismus zu umkreisen, und wechselte kühn sogar ins Romanfach. Bezeichnenderweise hieß ihr 2006 erschienenes Debüt „Die Klugscheißer GmbH“.

Wer Annemarie Pieper erlebte, wie sie sich auf ihrer Lieblingsinsel Sylt aufs Fahrrad schwang, jedem Wetter trotzte und neugierig auf alles war, was das Leben für sie bereithielt, spürte, mit welcher starken, zugewandten, dünkelfreien Frau er es zu tun hatte – wobei sie auf sich bezogen mit dem Begriff „starke Frau“ wohl kaum etwas anzufangen gewusst hätte.

„Selber denken. Anstiftung zum Philosophieren“ heißt eines ihrer erfolgreichsten Bücher. Auch mit ihm hat sie dazu beigetragen, dem Wort „Philosophie“ und ihrem Berufsstand seinen Schrecken zu nehmen. Sie verstand es, Menschen zu begleiten, die über das Große und das Ganze nachdenken wollten – eigentlich ein Urantrieb des Philosophierens.

Wie erst jetzt bekannt wurde, starb Annemarie Pieper am 15. Februar 2024 im Alter von dreiundachtzig Jahren.

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