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Die Verachtung

Trauer, Abgesang: Wie kommt es, dass Michel Houellebecqs Bilanzen immer so vernichtend ausfallen? Wahrscheinlich, weil er ungewöhnlich tief denkt. Seine Dankesrede zum (von dieser Zeitung vergebenen) Frank-Schirrmacher-Preis geriet ihm zum Nachruf auf zwei hierzulande praktisch unübersetzte und andernorts, im Sinne politischer Korrektheit, als nicht sonderlich stubenrein geltende, gelegentlich sogar als rechtsextremistisch einsortierte Schriftsteller: Philippe Muray (1945 bis 2006) und Maurice Dantec (1959 bis 2016). Die für ihn notorische gedankliche Schwingenbreite lässt schon den Vorwurf des Reaktionären, den man beiden machte, als Oberflächlichkeit erscheinen. Es ist eine weitere unzeitgemäße Betrachtung, eine erhabene, in leicht identifikatorischer Absicht angestimmte Klage über das Schwinden geistiger Substanz (siehe hier und hier), über „eine ermüdete westliche Welt, wehleidig und ängstlich“.

Solche Diagnosen sind keine Meinungen, die im Dienste irgendeiner Wünschbarkeit stünden; Houellebecq stellt sie auf eigene Rechnung, und ihre Kraft speist sich aus seinem Wissen über die reale und über die geistige Welt, das es ihm erlaubt, mit regloser Miene über Gesellschaften, Generationen und Epochen hinweg außerordentlich konsistente, aber hoffnungslose Überlegungen anzustellen. Damals nahm er noch bei Tocqueville seine Zuflucht, der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts einen neuen, harmlos daherkommenden, aber geistig und letztlich auch existentiell verheerenden „Despotismus“ beobachtete: „Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen. Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller andern fremd gegenüber. Über diesen erhebt sich eine gewaltige bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, ihre Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins Einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild. Sie wäre der väterlichen Gewalt gleich, wenn sie wie diese das Ziel verfolgte, die Menschen auf das reife Alter vorzubereiten; statt dessen aber sucht sie bloß, sie unwiderruflich im Zustand der Kindheit festzuhalten. Könnte sie ihnen nicht auch die Sorge des Nachdenkens und die Mühe des Lebens ganz abnehmen?“

Die Vereinzelung ist abgeschlossen

Unschwer wird man hier Vorwegnahmen von Horkheimer/Adorno sowie neuerer Thesen zur Infantilisierung der Gesellschaft erkennen. Houellebecq schloss seinerzeit: „Was die Ideen betrifft, so enthält diese Passage praktisch mein gesamtes Werk. Ich habe dem nur eines hinzuzufügen gehabt: dass das Individuum, welches bei Tocqueville noch Freunde und eine Familie hat, sie bei mir nicht mehr hat. Der Prozess der Vereinzelung ist abgeschlossen.“ Soviel zur einer Standortbestimmung.

Man darf, ja, muss vielleicht etwas weiter ausholen, um die geistigen, politischen und historischen Grundannahmen, auf denen auch Houellebecqs neuer, an diesem Dienstag erscheinender Roman fußt, einigermaßen zu begreifen. Die Standortbestimmung ist, nicht nur wegen seiner Treue zu Tocqueville und vor allem zu Pascal, die nämliche. „Vernichten“ spielt im Jahr 2026/27 und erzählt im wesentlichen die Geschichte von Paul Raison, einem engen Mitarbeiter des französischen Wirtschaftsministers Bruno Juge, der zugunsten des ehemaligen Fernsehmoderators Sarfati auf die Präsidentschaftskandidatur verzichtet, der selbst wiederum nur der Platzhalter für den scheidenden, nach zwei Amtszeiten pausierenden Amtsinhaber ist.

Die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen mit der realen Politik wird man leicht bemerken. Sie bilden die Folie für das auf vielerlei Ebenen spielende Ideen-Gespinst, das mit den typischen Houellebecq-Versatzstücken gearbeitet ist: grundsätzlich eine verständige, vorurteilslose Analyse der taktischen und ökonomischen Zwänge, denen die Politik unterliegt; ferner Migration, Terrorismus, Ehe, Familie und Sexualität; schließlich Krankheit, Pflegeindustrie, Sterbehilfe.

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