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#Adornos Worte auf nackter Haut

Adornos Worte auf nackter Haut

Ein Mann liegt nackt auf dem Bauch auf grauer, von Fußspuren zertretener Erde, den tätowierten Rücken mit zwei Spalten deutscher Sätze bedeckt. Ein anderer sitzt auf einer Kinderschaukel vor einer Häuserwand voller Graffiti. Ein dritter hat sich zweigeteilt, die eine Hälfte trägt einen Bart, eine halbierte Pelzmütze und einen Kaftan, die andere ist glattrasiert im blauen Hemd mit gestreifter Krawatte. Eine Frau im roten Kleid sitzt in einem Zimmer voller Bilderrahmen; in vielen stecken Familienfotos. Eine andere, jüngere Frau liegt unter ihrem Fahrrad im Herbstlaub. Eine Hochschwangere, die rechte Hand auf dem ge­wölb­ten Bauch, steht hinter einem Holztisch, neben ihr sitzt ein bärtiger Mann im Unterhemd; auf dem Ge­mälde zwischen ih­nen erkennt man die Beine einer Giraffe. Ein älteres Paar po­siert vor einem Glaskasten mit Resten vom Frühstückssaal des Grand Hotels Esplanade im Berliner Sony Center. Hinter den beiden, in der Spiegelung des Glases, rauscht der Straßenverkehr über den Potsdamer Platz.

Wenn man die Bilder des Fotografen Frédéric Brenner betrachtet, die das Jüdische Museum Berlin unter dem Titel „Zerheilt“ ausstellt, könnte man an die berühmten Miniaturen des Prosabands „Paare, Passanten“ von Botho Strauß denken. Denn auch hier sind Menschen zu sehen, die ganz bei sich zu sein scheinen, einzelne, Paare, wenige Gruppen, in deren Verweilen der Betrachter der Fotos eintaucht. Aber Brenner hat eine andere Beobachtungsmethode gewählt als Strauß. Seine Aufnahmen sind Porträts, die von den Porträtierten selbst gestaltet und im Blick des Fotografen vollendet wurden. Jedes Bild ein Gespräch. Jeder Raum eine Bühne. Und jede Person eine Rolle, ein Part, eine Stimme.

Der zweigeteilte Rabbi: ein Bild aus der Ausstellung „Zerheilt“



Bilderstrecke



Porträts als Selbstporträts
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Ein spezifischer Ausschnitt der Menschheit

Etwas Wichtiges kommt hinzu. Die Ab­gebildeten sind keine Zufallsbekanntschaften, keine Passanten. Fast jeder von ihnen ist jüdischer Herkunft, einige stammen aus Israel, manche aus Amerika, viele gehören zum Berliner Kulturleben. Die Fotoserie, in der Brenner sie alle zusammenbringt, zeigt einerseits einen Ausschnitt der Menschheit, andererseits eine besondere Gemeinschaft. Ihre Symbole sind rar gesät auf den Bildern, ein Rabbinerhut hier, eine Kippa dort, hebräische Schriftzeichen auf einer Ta­fel. Aber man findet sie. Und sie verbinden die Ansichten und Selbstinszenierungen der Menschen, die man hier sieht, mit der Geschichte eines Volkes, einer Religion und einer Kultur, mit der Schoa und mit dem Ort, von dem sie ausging, mit Berlin.

Berlin sei zu „einer erlösungssüchtigen Stadt“ geworden, schreibt Frédéric Brenner in seiner Einleitung zum Ausstellungskatalog. Überall werde das Judentum inszeniert und zelebriert, „vom Theater über Klezmer bis zur jüdischen Küche“, aber dieses Revival fühle sich oft weniger wie ein Akt der Heilung als eine neue Form der Entstellung an. Brenners Fotos sind, so gesehen, eine Gegeninszenierung. Sie stellen nicht das Jü­dischsein, sondern das Fürsichsein ihrer Protagonisten aus. Sie lassen sich auf deren Weltgefühl ein.

Das Jüdische steckt im Kopf des Betrachters

In dieser Welt ist das Schicksal des jüdischen Volkes immer präsent, wenn auch meist unsichtbar. Es kann in einem Schal stecken, der Farbe ei­nes Bettbezugs, einer Vorspeise auf dem Tisch. Vor allem steckt es im Kopf des Betrachters, der die unbeschrifteten Fotos nach be­kann­ten Gesichtern und lesbaren Zeichen absucht. Stattdessen werden ihm selbst Altbekannte fremd. Deshalb ist nicht das Plakatmotiv, der halbierte Rab­bi, die Ikone der Ausstellung, sondern der auf deutschem Boden aufgeschlagene Nackte. Es ist Carey Harrison, der Sohn des jüdischen Filmstars Lilli Palmers, und auf seinem Rücken steht das erste Stück aus Adornos „Minima Moralia“. Titel: „Für Marcel Proust“.

Frédéric Brenner, wie Proust in Paris ge­boren, ist der Chronist des jüdischen Le­bens in der Diaspora. Er hat Gemeinden in Rom, New York, Sarajewo, Marokko, Äthi­opien, Jemen und Portugal fotografiert und die Ultraorthodoxen in Israel mit dem Au­ge des Exils betrachtet. In „Zerheilt“ dokumentiert er das jüdische Leben Berlins, indem er es in­dividualisiert. Wir sollen die einzelnen be­trachten, nicht die Gemeinde. Das Motto der Ausstellung stammt von Paul Celan, der an eine Be­kannte schrieb, seine Aufenthalte in der Psychiatrie hätten ihn „zerheilt“. Brenners Bilder, könnte man sagen, befreien unseren Blick, indem sie ihm das falsche Heilmittel der Stereotypen verweigern. Was sie zeigen, ist nicht das Judentum. Es ist die Menschheit.

Frédéric Brenner: Zerheilt. Jüdisches Museum Berlin, bis zum 13. März 2022. Der Begleitband, im Hatje Cantz Verlag erschienen, kostet 58 Euro

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