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Der Wahnsinn hat Methode

Was sagt es aus, heute Coun­trysongs aufzunehmen, die täuschend echt so klingen, als könnten sie auch vor sechzig oder siebzig Jahren aufgenommen worden sein? Im Werk von Charley Crockett gibt es gleich Dutzende davon, bei denen wohl manchem auf Anhieb die Datierung schwerfiele. Zum Beispiel „Are We Lonesome Yet?“: Diese Frage stellt ein sprechender Aschenbecher voller Kippen dem Sänger, der in ihn hineinschaut, und die Musik hat die Frage implizit schon mit dem ersten Takt beantwortet.

Eine Stimme mit dem Widerhall ferner Vergangenheit, ein Chickaboom-Rhythmus und eine gute Portion Pedal-Steel-Schmieröl lassen den Hörer sanft in die Zeiten von Hank Williams gleiten, die der 1984, also mehr als dreißig Jahre nach dessen Tod geborene Crockett auch in seiner äußerlichen Inszenierung heraufbeschwört, vom Hut bis zur Gürtelschnalle. Ein anderes Lied fügt sich nahtlos ein zwischen alte Country-Klassiker wie „The End of the World“ und „Make the World Go Away“. Crockett nun singt: „Scuse me please, but the world just broke my heart.“

Was also sagt das aus? Ironie spielt offenbar keine Rolle, denn es gibt keine Brechung in der Inszenierung. Die ganze Erscheinung ist so durchkomponiert, bis hin zur Albumgestaltung im Retro-Design nebst Hinweisen auf den „full dimensional sound“, dass man fast von einem Wahn reden möchte. Aber dieser Wahnsinn hat Methode. Es ist ein Fall von Retromanie, allerdings nicht von der spielerisch-augenzwinkernden Variante, die Simon Reynolds mit diesem Terminus diagnostiziert, sondern ein ernster Fall. Hier mag sich einer nicht damit abfinden, dass das einmal Gültige überholt, verändert, entstellt werden muss im Namen des Fortschritts.

Zur Ernsthaftigkeit von Genremusik gehört immer auch ein Stück biographische Legende. Sucht man ein bisschen herum, setzt sich von Crockett bald das Bild eines klassischen Drifters zusammen: Schwierige Kindheit in texanischer Armut, Straßenleben in New Orleans und Straßenmusik in New York: ein Straßenleben. Oder, schöner gesagt, in den Geleitworten des texanischen Autors Joe Nick Patoski zu Crocketts neuem Album: „Charley hat den Zusammenbruch der Tonträgerindustrie, Geldmangel, Kleinkriminalität, gesellschaftlichen Ennui, die Corona-Pandemie, eine Operation am offenen Herzen, One-Night-Stands, Fernfahrten in einem Van und laute Raststätten mit lauwarmem Kaffee ertragen, um dorthin zu gelangen, wo er jetzt ist.“

Derartige Nostalgie birgt auch Gefahren

Tatsächlich sieht Crockett ein bisschen verschlagen aus. Auch das mag freilich, denkt man an einschlägige Flirts zwischen Countrymusikern und Knastbrüdern, Koketterie sein. Er selbst hingegen sagt: „Manche halten meine Geschichte für weit hergeholt; tatsächlich aber habe ich sie abgemildert.“ Seine Geschichte steckt nicht zuletzt in den Songs selbst. Wo auch immer er sich bis 2015 wirklich herumgetrieben hat – in diesem Jahr jedenfalls debütierte Charley Crockett mit dem Album „A Stolen Jewel“ und hat seitdem in kaum sechs Jahren ein Werk geschaffen, das anderen in Jahrzehnten nicht gelingt. 2016 erschien das Blues-Album „In the Night“. Umzüge nach Austin und Memphis brachten die Alben „Lil G.’s Honky Tonk Jubilee“ (2017) und „Lil G.’s Blue Bonanza“ (2018) mit multiplen musikalischen Einflüssen hervor; die Figur des „Lil G.“ sei an Hanks Williams’ Alter Ego „Luke the Drifter“ orientiert, so Crockett. Die Alben „Lonesome as a Shadow“ (2018), „The Valley“ (2019) und „Welcome to Hard Times“ (2020) wirken teils wie gesungene Memoiren, „The Valley“ trägt den Untertitel „And Other Autobiographical Tunes“. Daneben gibt es noch eine Platte mit dreißig „Field Recordings“ und, wie aus der Hüfte geschossen, das in diesem Frühjahr erschienene Tribute-Album „10 for Slim“ zu Ehren des texanischen Honky-Tonk-Sängers James Hand, den selbst Country-Kenner als obskur bezeichnen.

In einigen Tagen nun erscheint Crocketts zehntes Werk mit dem programmatischen Titel „Music City U.S.A.“. Dieses Epitheton kennt man für die Stadt Nashville in Tennessee. Es ist allerdings keine bloße Verbeugung vor dieser, sondern vielmehr eine gesungene Kritik an ihr, die Crockett im Titelsong präsentiert. „They’ve got a lot to say / In Music City U.S.A.“ lautet der lakonische Re­frain. Was das impliziert, mag man nur erraten. Vor allem wohl eine Kritik an der Exklusivität, mit der sich Nashville zum Country-Mittelpunkt erklärt. Crockett hingegen kommt aus dem texanischen Süden von der Golfküste, er nennt seine Musik dezidiert „Gulf & Western“. Damit spielt er auch auf Einflüsse aus dem dortigen Blues, Latin und Soul an, die etwa im neuen, von Bläsern angereicherten Lied „I Need Your Love“ hörbar werden. Das natürlich auch wieder so klingt, als könnte es vor sechzig Jahren aufgenommen worden sein.

Derartige Nostalgie, wie Crockett sie verkörpert, birgt freilich auch Gefahren, war doch das Mindset mancher Cowboys vielleicht nicht das edelste. Auch dar­über wird heute in Nashville gestritten. Rein ästhetisch gesehen, ist die Entschiedenheit zur historischen Aufführungspraxis des Country aber ein starkes Statement gegen die Entstellung zur Unkenntlichkeit, der das Genre im Zuge der Kommerzialisierung unterworfen ist. Der Angriff auf „Music City U.S.A.“ wird verständlicher, wenn man sich anhört, was die Schwerindustrie der dortigen Country Music Association in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht und ausgezeichnet hat. Wenn auch Rock, Metal und Rap Country sein sollen, hat die Klassifizierung keinen Sinn mehr.

In Charley Crocketts Retromanie steckt vielleicht auch noch metaphorisches Potential für andere Lebensbereiche. Seine Musik atmet den Geist echter Nachhaltigkeit, nicht jenen der als nachhaltig verbrämten Abwrackprämien. Sie ist ein verlässlich arbeitender Traktor, der noch gut läuft: Warum sollte man ihn ersetzen?

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