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#Den Überlebenskampf muss man annehmen

„Den Überlebenskampf muss man annehmen“

Wer auf der Westseite Manhattans am Hudson River entlangfährt, kann auf der Höhe der 72. Straße in den Riverside Drive einbiegen und ihm bis zur 181. Straße folgen. Man gerät auf ein Pflaster, das die Welt bedeutet – oder, genau genommen, mehrere Welten. Man fährt durch die wohlhabende Upper Westside, die Gegend um die Columbia University, West Harlem, Sugar Hill, Washington Heights. Unterwegs quert man die Color Line. Sie liegt ungefähr auf der Mitte zwischen den Gebäuden mit den Hausnummern 370 und 730, und sie trennt auch deren berühmteste Bewohner, Hannah Arendt und Ralph Waldo Ellison. Marie Luise Knott befasst sich in ihrem neuen Buch mit diesen zwei durch einen Zahlendreher getrennten Straßennachbarn: der deutsch-jüdisch-amerikanischen Philosophin und dem neben James Baldwin wichtigsten afroamerikanischen Autor der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, der – wie sie treffend sagt – „kein engagierter, eher ein enragierter Schriftsteller“ war.

Offenbar sind sich Arendt und Ellison nur flüchtig begegnet, ihr Austausch zur Rassenfrage bestand – wenn man ihn in Form eines Tennisspiels zusammenfassen würde – aus Aufschlag, kurzem Ballwechsel und Spielabbruch. Der Aufschlag kam von Hannah Arendt. In dem Aufsatz „Lit­tle Rock“, einem der umstrittensten in ihrem an umstrittenen Texten reichen Œuvre, nahm sie 1957 Anstoß an der „forcierten Aufhebung“ der „Rassentrennung an öffentlichen Schulen“, insbesondere am sogenannten bussing, bei dem schwarze Kinder von einem Stadtviertel ins nächste transportiert wurden, um zusammen mit weißen Kindern unterrichtet zu werden. Zoff war programmiert. Für die politischen Instanzen und für die Eltern, die das bussing betrieben, zeigte Arendt keinerlei Verständnis, sie sah darin einen unzulässigen Eingriff der Politik und des Rechts in die Gesellschaft und das private Leben.

Der Return von Ellison ließ auf sich warten, kam aber mit Wucht. 1965 warf er Arendt vor, „ungeheuer danebenzuliegen“ und „keinerlei Ahnung“ zu haben, was in den Köpfen der Schwarzen vor sich gehe. Er sah die Rolle der Schwarzen darin, den Staat, in dem sie mit Füßen getreten wurden, auf die eigenen „Ideale“ zu stoßen. Zum „impliziten Heroismus“ der Schwarzen gehörte nach Ellison die Bereitschaft, den Überlebenskampf anzunehmen und sich das „Ideal des Opfers“ (sacrifice, nicht victim) zu eigen zu machen. Dazu zählte er auch den Kampf gegen die Rassentrennung an Schulen.

Warnung vor falscher Scham

Arendts Antwort auf Ellisons Schlag war durchaus überraschend. Unbekümmert hatte sie zur Kenntnis genommen, dass ihr Aufsatz bei „Freunden“ und „Nichtfreunden“ auf Ablehnung gestoßen war. Doch Ellison schrieb sie einen Brief, in dem sie ihm zugestand, „völlig recht“ zu haben. (Dreimal in ihrem kurzen Brief trug Arendt dick auf mit „völlig“ oder „entirely“.) Erst durch seinen Hinweis auf das „Ideal des Opfers“ habe sie gemerkt, dass sie „eine völlig falsche Richtung“ eingeschlagen, die „Komplexität der Lage“ unterschätzt und die „elementare“ Auseinandersetzung, in der die Schwarzen steckten, verkannt habe. Auf Ellisons Return folgte also Arendts eindrucksvolle Demonstration der Schwäche.

Marie Luise Knott: „370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive“. Hannah Arendt und Ralph Ellison.


Marie Luise Knott: „370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive“. Hannah Arendt und Ralph Ellison.
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Bild: Matthes & Seitz Verlag

Dreierlei ist seltsam an diesem Brief. Erstens findet sich nur ein Durchschlag desselben in Arendts Nachlass, nicht aber das Original in Ellisons Papieren. Vielleicht hat der Brief das Haus 730 River­side Drive nie erreicht, denn zweitens fehlt jeder Hinweis auf eine Reaktion Ellisons. Es kam zum Abbruch des Spiels, kaum dass es in Gang gekommen war. Drittens gab es auch keine öffentliche Stellungnahme Arendts, mit der sie in die gleiche Kerbe geschlagen hätte wie in ihrer Nachricht an Ellison.

In ihrem großen Essay zeichnet Marie Luise Knott Porträts ihrer zwei Hauptfiguren, erhellt deren Hintergründe und bringt den in den Startlöchern stecken gebliebenen Dialog zwischen ihnen in Gang. Sie erkennt Entsprechungen zwischen Ellisons Roman „Der unsichtbare Mann“, in dem die Titelfigur eine Leidensgeschichte aus Verachtung und Verlassenheit durchläuft, und Arendts Feier des öffentlichen Raums sowie auch ihrer Rede von der „Finsternis“, die in der Welt der amerikanischen Sklaven herrschte.

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