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#Der Sarg als Inkubator der Auferstehung

Der Sarg als Inkubator der Auferstehung

Religion ist etwas für Bekloppte oder für Drückeberger. Für jene also, die mit dem, was wir „Wirklichkeit“ nennen, nicht klarkommen. So lautet das Gegenwartsdogma der Musiktheaterregie. Man kann schon vorher Wetten abschließen, dass Renata in jeder Neuinszenierung von Sergej Prokofjews „Der feurige Engel“ einen an der Klatsche hat. Und auch in Claus Guths Neuinszenierung von Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“, die jetzt an der Oper Frankfurt gezeigt wird, ist die junge Aristokratin Blanche de la Force, die sich entschließt, Nonne zu werden, eine arme Irre. Wenn sie inmitten des Revolutionsterrors – die Hinrichtung der sechzehn Karmeliterinnen vom Kloster Compiègne im Jahr 1794 ist belegt – zusammen mit ihren Glaubensschwestern aufs Schafott geht, dann bedeutet das bei Claus Guth vor allem das Ausagieren einer Psychose im Kopf der Hauptfigur: alles Einbildung ohne Außenweltbezug.

Nun hat Guth damit gar nicht so Unrecht. Schon das Schauspiel von Georges Bernanos, dem Poulenc in seiner 1957 vollendeten Oper folgt, porträtiert Blanche als eine Frau voller Angst, die sich nicht anders zu helfen weiß als durch die religiöse Legitimation ihrer Unfähigkeit, der Welt standzuhalten. Poulenc selbst schrieb, es gehe bei Blanche nicht nur um Angst, sondern um Wahnsinn. Doch in den „Dialogen der Karmeliterinnen“ – einem ziemlich gescheiten Libretto – wird eben nicht nur die Psychose der Hauptdarstellerin verhandelt. Es geht um Demut als Heuchelei, um Stolz auch in der Erniedrigung, um die aufrichtige Erforschung der Motive eigenen Handelns und die ständige Prüfung, ob man den Namen Gottes nicht für selbstsüchtige Zwecke missbrauche.

Am Ende geht es auch um den Sinn des Martyriums, um die christliche Zuversicht, dass mit dem Tod das Leben nicht vorbei sei, und um ein Verständnis von Sittlichkeit, das dem Menschen abverlangt, für eine Idee sein Leben zu opfern. Die Hinrichtung der Nonnen dokumentiert den totalitären Charakter einer modernen Emanzipationsnötigung, die kurzen Prozess macht mit denen, die ihr nicht folgen. Der Soziologe Peter Ludwig Berger beschrieb dies als den „repressiven Charakter moderner Säkularität“. Wer religiöse Menschen reflexartig als unzurechnungsfähig – als Weltflüchter und Geisteskranke – abqualifiziert, schreibt diese intellektuelle Repression fort.

Theatralisch aber macht Guth seine Sache glänzend. Von der Bühnenbildnerin Martina Segna ließ er sich eine kubistische Landschaft bauen, die eher auf die Zukunft als auf die Vergangenheit verweisen soll, weil – so sagt er es selbst – diese „Härte und Kälte“ auch für eine Welt stehe, in der es keinen Halt gebe und wo auf nichts Verlass sei. Maria Bengtsson, eher lyrisch als dramatisch timbriert, fesselnd zart in ihrer stimmlichen Ausstrahlung, spielt die Blanche schon von ihrem ersten Auftritt an als eine fragile, aber mysteriöse Frau. Zu enträtseln ist sie nicht: eine Mischung aus Debussys „Mélisande“ und Hitchcocks „Marnie“. Wenn sie ihrem Bruder gegenüber darauf besteht, dass in ihrer Angst auch der Mut zum Kampf stecke, entwickelt sie eine Glut, die ihrerseits beängstigend ist. Jonathan Abernethy begegnet ihr in diesem Streit mit einem Tenor voll überquellender Liebe, delikater Diktion und mattiertem Glanz, der schon einen kommenden Chevalier des Grieux in Jules Massenets „Manon“ erahnen lässt.

Ein Ereignis ist Elena Zilio als alte Priorin Madame de Croissy: eine Greisin mit grauem Haar und faltiger Haut an den Armen, aber einer Stimme, so hell und rein wie die Sonne an einem frostklaren Januartag. Diese Momente eines jenseitigen Strahlens wechseln jäh ab mit jenen beilharten Blitzens, wenn sie Blanche einer unsentimentalen Gemütsprüfung unterzieht, sowie jenen krass kreatürlichen Verreckens in echter Todesangst. Der gläserne Sarg, in dem sie danach ruht, gleicht einem Inkubator. Die symbolistische Verdichtung ist großartig: Das Bild verknüpft das Märchen von Schneewittchen mit den Heilsversprechen moderner Apparatemedizin, den Tod der „zweiten Mutter“ von Blanche mit dem ihrer ersten, die bei Blanches Frühgeburt – ausgelöst durch die Angst bei einem adelsfeindlichen Überfall – starb.

So meisterlich es Poulenc gelang, den Frauenfiguren eine je eigene vokale Physiognomie zu geben, so glücklich werden die Sängerinnen dieser Herausforderung gerecht. Ambur Braid als neue Priorin verströmt die Güte eines Glaubens, der Gewissensangst nicht für gottgewollt hält. Sogar das Weinen über das von den Nonnen voreilig abgelegte Martyriumsgelübde nimmt ihr Singen auf, ohne sich als Gesang preiszugeben. Florina Ilie als Schwester Constance verschenkt ihre Stimme mit sommerlicher Grazie. Ihr Sopran, warm und hell, beglaubigt durch klingende Evidenz eine Lebensfreude, die den Tod immer schon umarmt hat. Claudia Mahnke als Schwester Marie zeichnet das komplexe Charakterporträt einer Zerrissenen: Machthunger und Barmherzigkeit, Glaubensfundamentalismus und Kleinmut stecken gleichzeitig in ihr. Überlegenheit trägt sie zur Schau, dahinter wühlen Zweifel und Sehnsucht nach Zuwendung. Es gab langen und liebevollen Applaus, als Frankfurts Opernintendant Bernd Loebe sie nach der Vorstellung auf der Bühne offiziell – im Auftrag des Oberbürgermeisters – zur Kammersängerin ernannte.

Überragend zusammengehalten wird der Abend von der jungen litauischen Dirigentin Giedre Šlekyte, die das Frankfurter Opern- und Museumsorchester durch diese Kammerfassung von Takeshi Moriuchi führt. Für die durchgeistigte Sprödigkeit vieler an Igor Strawinsky gemahnender Bläserakkorde hat sie das gleiche Gespür wie für die orchestralen Samtverschläge, die an Arrangements der Chansons von Jean Lenoir und Charles Trenet aus den vierziger Jahren erinnern. Vor allem treibt sie gezielt und mit leichtfüßiger Eleganz den Dialog voran. Neben der Dirigentin Mirga Gražinyte-Tyla, den Sängerinnen Asmik Grigorian, Aušrine Stundyte und Vida Miknevičiute ist Šlekyte die nächste Litauerin binnen weniger Jahre, die jetzt in Europas Opernwelt den Ton angeben.

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