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#Der Tyrann ist tot, es lebe der Tyrann!

Der Tyrann ist tot, es lebe der Tyrann!

Zugegeben: Diese Rezension beginnt weit vor ihrem Gegenstand, aber niemand sollte über Wladimir Medwedew schreiben, ohne Maria de Smeth zu erwähnen, haben doch beide Werke vorgelegt, die zu Umbruchszeiten in Tadschikistan spielen. Die gebürtige Schrobenhausenerin de Smeth (1903 bis 1975) hält im Jugendbuch „Dario vom Stamme der Tadschiken“ den Widerstand nach der Oktoberrevolution fest und beschreibt die Kämpfe von Rebellen, den Basmatschen, gegen die Bolschewiken.

Medwedew, Jahrgang 1944, siedelt seine Handlung nach dem Zerfall der Sowjetunion an. Während de Smeth die Brutalität der Zwangskollektivierung unter den „roten Schaïtanen“ herausstellt, legt Medwedew seinen Figuren Worte wie diese in den Mund: „Der Zusammenbruch der Sowjetunion war eine Katastrophe von gewaltigen Ausmaßen, das ist Fakt.“ De Smeth war Mitglied der niederländischen nationalsozialistischen Partei und geriet wegen Spionage für Deutschland in russische Gefangenschaft. Medwedew hat lange in Tadschikistan gelebt, verschiedene Berufe ausgeübt, darunter als Fachmann für Patentfragen in einem Konstruktionsbüro, und erst spät zu schreiben begonnen. In Interviews betont er immer wieder, keine seiner Figuren könne als sein Alter Ego gelten. Bei allen Unterschieden rahmen diese literarischen Werke gleichsam die sowjetische Periode in der tadschikischen Geschichte.

Scheiternde Integration

Ausgangspunkt im Roman „Im Strom der Steine“ ist ein Mord, verübt an dem Tadschiken Umar. Der war mit einer Russin verheiratet, lebte aber nicht mit ihr zusammen. Sein Bruder Dschorub holt die Witwe und die beiden halbwüchsigen Kinder Andrej und Sarina aus der Kreishauptstadt Watan ins heimatliche Dorf, den Kischlak. Dort erfahren sie von einer Zweitfamilie, die Umar mit einer Tadschikin unterhielt. Es prallt aufeinander, was aufeinanderprallen kann – Kommunismus und Islam, Stadt und Land –, doch beide Welten trennt nicht viel voneinander: Die Kinder sprechen beide Sprachen, Vera ist beileibe keine Feministin, Watan nicht die Hauptstadt Duschanbe. Die Integration indes scheitert katastrophal.

Wladimir Medwedew: „Im Strom der Steine“. Roman.


Wladimir Medwedew: „Im Strom der Steine“. Roman.

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Bild: Aufbau Verlag

Dies liegt weniger an kulturellen Unterschieden, als vielmehr an den Machtkämpfen, die in den Dörfern toben. Traditionell geht es um Weideland, zusätzlich klafft nun aber nach dem Zerfall der Sowjetunion ein Machtvakuum auf, das auf dieser schmalen Lokalebene zunächst Suchur füllt, ein Mann, der als „Instrukteur des Kreisparteikomitees“ lange genug nach oben gebuckelt hat, um jetzt ordentlich nach unten treten zu können, ein Charakter, der mehr mit Heinrich Manns Untertan Diederich Heßling gemein hat, als die räumliche Entfernung und der kulturelle Hintergrund vermuten ließen. Dieser Suchur zwingt Sarina durch perfide Schachzüge zur Ehe. Die Hochzeitsvorbereitungen samt Intimrasur empfindet sie als Vergewaltigung, sie versucht sich umzubringen. Ob sie überlebt, bleibt offen.

Gefüttert mit dem Hirn der Untertanen

Die Handlung wird aus der Sicht von Sarina und sechs Männern geschildert, bei denen es sich um Russen und Tadschiken, darunter ein Soldat und ein geistiger Würdenträger, ein Fotoreporter und ein Bauer, handelt. Wie auch immer Medwedew es vollbracht haben mag – er dürfte kaum den biographischen Hintergrund all dieser Figuren auch nur temporär geteilt haben –, die Stimmen sind meisterlich individualisiert. Der glanzvolle Kern des Romans steckt in Suchurs Porträt, der selbst keine eigene Stimme hat. Seit seinem Aufstieg zum Lokaltyrannen läuft er gern mit einer Schlange auf den Schultern herum. Mit diesem Attribut wird auf Sachak, eine Figur aus dem persischen „Schahnameh“, verwiesen. Dieser Sachak fütterte seine Kriechtiere mit dem Hirn der Untertanen – „eine geniale Metapher, die das innerste Wesen von Macht beschreibt. Gewalt wird in erster Linie dem Verstand der Untergebenen angetan und erst dann ihrem Körper.“

Suchur will im Kischlak Mohn anbauen lassen, um ganz groß in den Drogenhandel einzusteigen. Er gibt sich als Beschützer der Armen, nutzt die clanartigen Strukturen, steht aber letzten Endes ohne die Unterstützung einer Familie oder von Weggefährten da. Wie Sachak im Epos wird er gestürzt – was einen nur noch brutaleren Machtkampf in Gang setzt.

Vom Pazifisten zum Mörder

Der Roman schildert eine knappe Zeitspanne in einer eng begrenzten Berggegend, birst aber vor packenden und auserzählten Versatzstücken: Durch diese Gegend ist noch Alexander der Große gezogen, hier haben die Basmatschen gekämpft, in der Sowjetzeit hatte sich eine Art religiöses Agreement herausgebildet … In diesen historischen Flickenteppich sind psychologische und soziologische Beobachtungen eingeflochten: wie leicht selbst friedliebende Menschen unter bestimmten Bedingungen zum Mörder werden können, wie Tabuisierung alles Körperlichen und Verdruckstheit im Umgang mit derben Obszönitäten und brutalen Vergewaltigungen einhergehen können.

Auf die Frage, ob zu Sowjetzeiten wirklich alles besser war oder aus heutiger Sicht eine verklärende Sowjetalgie eingesetzt hat, gibt der Roman die Antwort: Es war ruhiger. Alles andere lässt er dankenswerterweise offen. Durch seine komplexe Struktur kann er eine Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen, die de Smeths Jugendbuch fern ist und wohl auch fernliegen soll. Am Ende führt Medwedew seinen Andrej zum Grab Umars, wo er gesteht: „Vater, ich habe Angst.“ Aus heutiger Sicht lässt sich sagen: zu Recht. Der Bürgerkrieg dauerte Jahre, Armut prägt noch heute das Land, an der Geringschätzung von Frauen hat sich nicht viel geändert. Als Hoffnung bleibt nur: Das Leid ist nun bezeugt in einem wirklich großen Roman.

Wladimir Medwedew: „Im Strom der Steine“. Roman. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. Aufbau, Berlin 2021. 654 S., geb., 26,– €.

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