Nachrichten

#Die Außenwelt seines Innenlebens

Der Schriftsteller“, meinte Wilhelm Genazino, „richtet sein Leben so ein, daß es nach seinem Tod unerforschlich sein wird.“ Manche richten auch ihr Werk so ein, dass es nach ihrem Tod unerforschlich ist. Bei Genazinos Leben, das 75 Jahre währte, gibt es nämlich nicht viel zu forschen. Dafür war es wahrscheinlich nicht spektakulär genug, zu sehr der Schriftstellerei gewidmet; das wenige, das er über seinen Alltag, über Ereignisse festhielt, ist Teil seines so genannten Werktagebuchs, das in Gestalt von 38 Aktenordnern im Marbacher Literaturarchiv lagert. Ein erster Extrakt daraus liegt nun vor unter dem etwas nichtssagenden, jedenfalls nicht sonderlich einprägsamen Titel „Der Traum des Beobachters“.

Werktagebuch: Schon der Begriff garantiert, dass man, anders als zum Beispiel bei Thomas Manns Tagebüchern, nicht mit Belanglosigkeiten nach Art von „morgens rasiert“ oder „nachts geschlechtlicher Anfall“ behelligt wird. In aller Regel hielt Genazino nur fest, wovon er glaubte, es für seine Romane gebrauchen zu können. Es versteht sich bei diesem Autor von selbst, dass darunter gleichwohl auch Banalitäten fallen, denn von deren Beobachtung und aber eben vor allem von deren immerwährender gedanklicher Einsortierung leben seine Bücher ja. Doch über sein Leben geben sie kaum Aufschluss, nur über sein Denken, auf das es schließlich ankommt. Der Biograph, der sich dermaleinst hoffentlich finden wird, kann sich jedenfalls auf eine mühsame Arbeit gefasst machen.

Morgens Soziologie-Prüfung, nachmittags Krebsvorsorge

Ein Detail kann er sich schon mal vormerken: „Ein merkwürdiger Tag im Leben eines Fünfzigjährigen: Am Morgen (11.00 Uhr) mündliche Nebenfach-Prüfung (Soziologie) bei Prof. Keller“. Und dann kommt ausnahmsweise doch noch eine zwar nicht alltägliche, aber älteren Menschen geläufige Verrichtung: „am Nachmittag (16.00) Krebs-Vorsorgeuntersuchung“. Das war am 18. Februar 1993. Von hier war es dann gar nicht mehr so weit bis zum Büchnerpreis, den Genazino 2004 bekam. Das Ergebnis der Prüfung war übrigens positiv, das der Untersuchung negativ, zum Glück nicht umgekehrt.

Begreiflicherweise hat ihn die Tatsache, dass er das Abitur nachmachen musste und er erst spät studierte, beschäftigt; und es ehrt einen Autor wie ihn, dessen Intellektualität dem Werk auf so unaufdringliche, ohne einen prätentiösen Begriffsapparat auskommende und trotzdem intensiv spürbare Art eingeprägt ist, dass er mit dem eigentlichen Antrieb, der hinter dieser nachgeholten Aus-Bildung steht, nicht hinterm Berg hält: „Erinnerung an das Externen-Abitur in Marburg. In der Mittagspause fragte ich Prof. Dr. Burkhard Dedner (der mich über Büchner prüfte), ob ich ihm peinlich sei, und er antwortete: Ja. Seiner Meinung nach hätte ich Abitur und Studium nicht nötig. Ich traute mich nicht, ihm zu sagen, daß es nicht nur um Wissen geht, sondern um Biografie und Anerkennung.“ Fast meint man hier die armen Eltern schemenhaft auftauchen zu sehen, wie sie das in den Romanen häufiger tun – die bescheidene, durchweg als lähmend empfundene Nachkriegskindheit inmitten der Mannheimer Trümmer ließ ihm zeit seines Lebens keine Ruhe und wird hier als wahrscheinlich mitentscheidendes Motiv für seine Aus- und Aufstiegsanstrengungen kenntlich.

Er formuliert eingängig und tief, oft abgründig und allemal originell

Es ist bezeichnend, dass die Uni-Prüfung (die, ein Schreibfehler, von Burghard Dedner abgenommen wurde) bei in der Ereignisrangliste schon einen vorderen Platz einnimmt; aufregender wird es nicht mehr, zumindest ist nichts davon notiert. Der Rezensent hat es, einmal neben Genazino sitzend, erlebt, dass eine etwas unver­ständige Zuhörerfrage in aller Selbst­verständlichkeit so quittiert wurde: „Nun, ich habe ein reiches Innenleben.“ Die beste Voraussetzung also dafür, dass sich das Reflexive prächtig entfalten kann. Genazino formuliert seine Gedanken eingängig und tief, oft abgründig und allemal originell.

Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat, vergessen Sie nicht, ihn mit Ihren Freunden zu teilen. Folgen Sie uns auch in Google News, klicken Sie auf den Stern und wählen Sie uns aus Ihren Favoriten aus.

Wenn Sie an Foren interessiert sind, können Sie Forum.BuradaBiliyorum.Com besuchen.

Wenn Sie weitere Nachrichten lesen möchten, können Sie unsere Nachrichten kategorie besuchen.

Quelle

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"
Schließen

Please allow ads on our site

Please consider supporting us by disabling your ad blocker!