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#Die fiktive Gewalt

Die fiktive Gewalt

Vor einem Jahr verbreitete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen verhängnisvollen Tweet, in dem zu lesen war, mit Sars-CoV-2 könne man sich nicht via Aerosole durch die Luft („airborne“) anstecken. Die Quittung dafür war ein ausgewachsener Shitstorm und obendrein der Vorwurf des Genozids. Die Fehleinschätzung der WHO seinerzeit hatte viele Gründe, etwa den, dass Experten zerstritten waren, was unter Aerosolen und Tröpfchen genau zu verstehen war. Das hinderte viele Regierungen der Welt nicht daran, den Rat der WHO zu ignorieren – unter ihnen die erfolgreichsten im Kampf gegen die Pandemie. Atemschutzmasken wurden schnell weltweit Standard.

Joachim Müller-Jung

Joachim Müller-Jung

Redakteur im Feuilleton, zuständig für das Ressort „Natur und Wissenschaft“.

Einen wissenschaftlichen Sachzwang, Masken zu ignorieren, gab es jedenfalls damals nicht. Und selbst heute wäre die Politik selbstverständlich völlig frei, die Expertise der WHO zu ignorieren. In gleicher Weise verhält es sich mit dem Rat untergeordneter Institutionen, die zur wissenschaftlichen Beratung der Politik (wie von der Politik gewünscht) eingesetzt werden. Das Mandat, politische Handlungszwänge zu generieren, wird nicht einmal dem Weltklimarat als dem vielleicht einflussreichsten Expertengremium überhaupt eingeräumt. Die Entscheidungen treffen und die Verantwortung tragen immer die Regierenden, alles andere wäre auch im demokratischen Rechtsstaat undenkbar.

Wie ist es aber, wenn Wissenschaftler in die Rolle von Ersatzpolitikern schlüpfen und nicht empfehlen, sondern „befehlen“? Der St. Gallener Historiker Caspar Hirschi sieht diesen Tatbestand durch eine Formulierung in der siebten Ad-hoc-Stellungnahme der Nationalakademie Leopoldina vom 8. Dezember des Vorjahres erfüllt, in der auf die Notwendigkeit eines harten Lockdowns hingewiesen wird, „um die Anzahl von Neuinfektionen schnell und drastisch zu verringern“. Hirschi erkennt darin das „Totschlagargument eines wissenschaftlichen Sachzwangs“ und auch das Fanal einer Entwicklung, die er als „Totalisierung der Expertenrolle“ identifiziert. Hat der Historiker womöglich einen veritablen Umsturzversuch aufgedeckt?

Wieler sei „dem Gesundheitsminister weisungsunterworfen“

Wenige Tage nach der Veröffentlichung der von ihm beanstandeten Leopoldina-Stellungnahme gab Hirschi ausgerechnet in einem Leopoldina-Gespräch, das auf Youtube zu sehen ist, eine völlig anderslautende These zu Protokoll: Die Medien, nicht etwa die Experten, inszenierten eine „expertokratische Fiktion“. Die Verantwortlichkeiten seien auch in der Pandemie ganz klar geregelt. Die Medien jedoch „spiegeln diese Verantwortlichkeiten nicht adäquat wider“ und tun so, „als seien Politiker nur noch Vollzugsinstanzen von Expertenaussagen“. So schnell geht Geschichte manchmal.

Inzwischen sieht der Historiker die Demokratie offensichtlich durch eine Kumpanei von Experten und Politik gefährdet, die er an einer Beteiligung des Präsidenten des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, an der 34-köpfigen, hochgradig interdisziplinären Arbeitsgruppe für die Leopoldina-Stellungnahme festmacht. Damit, so der Historiker, sitzt die Bundesregierung mit am Tisch der Leopoldina. Und? Die Bundesregierung hat sogar den Sessel frisch bezogen und hingestellt, auf dem die Nationalakademie seit mehr als zehn Jahren sitzt – und außerdem auch deren Unabhängigkeit beurkundet. Trotzdem: Wieler sei „dem Gesundheitsminister weisungsunterworfen“, stellt Hirschi trotzig fest. In dem Youtube-Gespräch des Historikers – vier Tage, wie gesagt, nach der inkriminierten Leopoldina-Stellungnahme – war seine Einschätzung noch eine gänzlich andere: „Nirgendwo“, ausgenommen vielleicht in Schweden, „üben Gesundheitsexperten eine exekutive Gewalt aus“. Alles also doch nur die Illusion einer Expertokratie?

Oder ist der Rat der Experten in sich schon fragwürdig, weil er ihnen eine ungebührliche Nähe zur Macht verleiht? Werturteilsfrei, ergebnisoffen, „ohne Handlungszwänge zu erzeugen“, habe Expertise zu sein. Und wenn die politische Fragestellung der Expertise lautet: die Pandemie unter Kontrolle bringen – sollte dann unter den vielen Szenarien, die von den Experten dargelegt werden, nicht jenes herausgehoben werden, das diesem normativen Ziel am nächsten kommt? Der von Hirschi beklagte „Rollentausch“ in der Arbeitsteilung von Politik und Expertise ist darin schwer zu erkennen.

Und wie war es, als der Bundesgesundheitsminister das Aussetzen des Astra-Zeneca-Impfstoffs damit begründete, dies sei „eine fachliche, keine politische Entscheidung“? War das zu viel Respekt vor den Evidenzen und den Bedenken der Ratgeber im Paul-Ehrlich-Institut? Oder der Versuch, sich einfach hinter den Experten zu verstecken? Auf alle Fälle hätte er sich politisch sehr wohl gegen den Rat entscheiden können.

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