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Die Hoffnung liebt zuletzt

Die Stimmung ist ungeachtet der Naturschönheiten angespannt: Sechs Freunde haben sich während des ausklingenden Indian summer in einem einsamen Haus in der Nähe von Montreal versammelt, aber einer von ihnen hat seine allgemein unbeliebte Schwester mitgebracht. Diese Érika ist noch etwas jünger als das gerade ins Berufsleben einsteigende Männer-Sextett, führt aber sofort bei Ankunft das große Wort – voller akademischem Jargon und Anglizismen. Diese Ausgangskonstellation könnte für diverse Entwicklungen gut sein: In einer traditionellen Komödie würde diese nervige Frau geläutert und schließlich geheiratet, in einer klassischen Tragödie fürs Leben ge­zeichnet. Im heutigen Horrorfilm würde sie umgebracht (und wohl nicht nur sie). Und in einem Melodrama würden alle Beteiligten unglücklich. Xavier Dolan aber wählt einen fünften Weg.

Der kanadische Regisseur ist seit mehr als einem Jahrzehnt berühmt und zählt immer noch erst zweiunddreißig Jahre. Er steht seinen sechs Herren also altersmäßig nahe, und er spielt auch einen von ihnen: Maxime, seines Zeichens der noch Ungefestigtste im Freundeskreis und deshalb auf dem Absprung zu einem zweijährigen Australien-Aufenthalt (der Film entstand schon 2019, so erklärt sich das heute utopisch klingende Reiseziel; die Pandemie vereitelte auch den ursprünglich für vergangenen November geplanten deutschen Kinostart). „Matthias & Maxime“ heißt der Film von Dolan, und wer dessen bisheriges, dem schwulen Kino zugerechnetes Werk kennt, der wird ahnen, dass sich hier niemand weiter für Érika interessiert. Aber die beiden Titelhelden füreinander.

Erweckungskuss

Trotzdem ist Érika der Katalysator der Handlung. Als Filmstudentin muss sie rasch eine Studienarbeit abdrehen und bittet dafür Matthias und Maxime um einen Kuss unter Männern vor laufender Kamera. Die beiden sind Freunde von Kindes­beinen an, aber die provozierte Liebesgeste löst eine Leidenschaft aus, die so kurz vor Maximes Abreise für Matthias doppelt verwirrend ist. Er ist der Etablierteste im Freundeskreis, tätig in einer großen Anwaltskanzlei und liiert mit der schönen Sarah. Das wissen wir aber noch gar nicht, wenn der Erweckungskuss getätigt wird.

Dolan ist als Regisseur viel zu schlau, als dass er bei seinem Drehbuch nicht das eigene Image einkalkulierte. Dass Matthias und Maxime nicht ganz wohl ist bei der Filmaufnahme, sieht man wohl, aber man schiebt es als Zuschauer auf Érikas verbale Vehemenz. Dass auch die sechs jungen Herren von Beginn an dauernd Anglizismen in ihr Französisch einfließen lassen – „anyway“ dürfte das meistgebrauchte Wort der Handlung sein –, setzt ihre Verachtung für Érika ins Unrecht; die Dolan mittlerweile habituell unterstellte Misogynie ist Folge seines gnadenlosen Blicks auf Frauen, die aber gerade deshalb die interessantesten Figuren in seinen Filmen sind. Um Rollen, wie sie Anne Dorval und Micheline Bernard als Mütter von Matthias und Maxime spielen, dürften sich Schauspielerinnen reißen. Und die Göre Érika ist ein Fest für Camille Felton – gerade weil sie dabei nicht einfach nur schön aussehen muss wie etwa Gabriel d’Almeida Freitas als Matthias. Wenn man Klischees bei Dolan beklagt, dann doch bitte hier.

Alle Grenzen fallen

Sein Maxime dagegen ist entstellt durch ein großes rotes Muttermal im Gesicht, das von der Umgebung nie thematisiert wird, aber alle Blicke auf sich zieht – im Film und vor der Leinwand. Einmal wäscht der frustrierte Maxime es sich im Spiegel ab, doch natürlich fängt die Kamera es beim Rückwärtsschwenk dann wieder ein. Ein Film kann Wunder wirken wie sonst nur unsere Wunschvorstellungen, und so irreal ist er auch. Solche handwerklichen Kabinettstückchen liebt Xavier Dolan.

Deshalb bietet sein Film nach Ablauf einer etwas zähen ersten halben Stunde in den verbleibenden drei Vierteln der Laufzeit eine Folge bemerkenswerter Plansequenzen, oftmals diegetisch unterstützt durch Musikeinsatz, der trotzdem seine Künstlichkeit ausstellt, etwa bei der Ankunft eines jungen Anwalts aus Toronto, der über die Selbstvergessenheit unter seinen Kopfhörern den auf ihn wartenden Matthias übersieht. Oder in der schönsten Szene, als zur Musik von Arcade Fire („Signs of Life“) die Abschiedsfeier für Maxime außer Rand und Band gerät (in Zeitlupe), ehe kurz danach auch zwischen Matthias und Maxime die Grenzen fallen. Und eine wiederum daran anschließende Fahrt von André Turpin, Dolans ständigem Kameramann, ist zwar simpel, aber unglaublich effektiv, manche werden sagen: effekthascherisch. Die aber haben keine Sympathie für Pathos.

Und das wiederum liebt Dolan. Wobei er in „Matthias & Maxime“ auch Schnitte setzt (wie üblich ist er sein eigener Cutter), die gerade die Gefühlswelt der Figuren nicht ausbuchstabieren, sondern hinter Schwarzblenden verbergen. So etwa im Falle des folgenreichen Kusses, bei dem die Begegnung der Münder von Érikas Digitalkamera verdeckt und der Liebesbeweis selbst sogar weggeschnitten wird. Es ist, als geriete bisweilen die Kamera selbst in einen verwirrten Taumel: Unschärfen, Zeitraffer, Jump Cuts.

Während Maxime Abkömmling einer Familie ist, die man als white trash bezeichnen müsste, wenn sie nicht in der französischsprachigen Provinz Québec lebte, ist Matthias erkennbar alles zugefallen. Umso mehr gerät seine Welt in Unordnung. Dass es am Schluss eine Wendung gibt, die hinter einer kleinen Handlung ein großes Bekenntnis vermuten lässt, ist dolantypisch. Die Hoffnung liebt zuletzt.

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