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#Die Skizzen der Impressionisten: Fänger der Essenz des Lebens

In keinem Medium war der Impressionismus mehr bei sich: Die Royal Academy of Arts in London zeigt die fast durchgängig überraschenden Papierarbeiten der Impressionisten

Als im Frühjahr 1874 in Paris eine Gruppenausstellung der vage betitelten „Anonymen Gesellschaft der Maler, Bildhauer und Graphiker“ im Atelier des Fotografen Nadar angekündigt wurde, hielt sich das Interesse der Kunstwelt in Grenzen. Von den bis dahin kaum bekannten Künstlern, deren Werke es nicht in die Auswahl für den offiziellen Salon geschafft hatten, erwartete man eher wenig. Und doch wurde genau dieser Moment vor 150 Jahren, in dem Claude Monet, Camille Pissarro, Pierre-Auguste Renoir, Berthe Morisot und viele andere erstmals gemeinsam ihre Werke ausstellten, später als Geburtsstunde des Impressionismus gefeiert.

Die Schau läutet das Impressionismus-Jahr 2024 fulminant ein

Bevor Ende März im Musée d’Orsay die große Jubiläumsschau „Paris 1874: Inventing Impressionism“ startet, wirft die Royal Academy of Arts in London jetzt einen ebenso ungewöhnlichen wie faszinierenden Blick auf den Impressionismus. Denn statt berühmter Gemälde versammelt die Ausstellung „Impressionists on Paper“ über siebzig Papierzeichnungen und -malereien einer Vielzahl von Künstlern, darunter Morisot, Degas, Monet, Renoir und Pissarro sowie Post-Impressionisten wie Gauguin, Cézanne und van Gogh. Die meisten dieser Werke waren bisher selten öffentlich zu sehen, sodass auch Impressionismus-Kenner viel entdecken können. Der Reiz der Ausstellung liegt dabei darin, dass man dem Impressionismus im Grunde noch einmal beim Werden zuschauen kann.

Kafkaesker Toulouse-Lautrec, kaum bekannt: „Im Zirkus“ von 1899 zeigt Pferd und den die Tänzerin beknieenden Clown von hinten.


Kafkaesker Toulouse-Lautrec, kaum bekannt: „Im Zirkus“ von 1899 zeigt Pferd und den die Tänzerin beknieenden Clown von hinten.
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Bild: Collection of David Lachenmann

Die Schau folgt der These, dass es eine der großen Innovationen der Impressionisten gewesen sei, die traditionelle Hierarchie zwischen Gemälde und Skizze aufzulösen. Während Letztere über Jahrhunderte hinweg in erster Linie zur Vorbereitung für spätere Gemälde benutzt wurde, hätten die Impressionisten Papierzeichnungen erstmals als eigenständige Kunstwerke verstanden. Als Medium war Papier im Grunde wie gemacht für die Impressionisten. Denn es waren ja gerade skizzenhafte Stimmungsbilder, mit denen man sich von der klassischen Malerei abheben wollte, die damals die Kunstakademien dominierte. Das Spontane und Unfertige, das die Impressionisten zum ästhetischen Prinzip erhoben, kommt dabei auf den Papierzeichnungen noch unmittelbarer zum Vorschein als auf den Gemälden. So etwa in dem pastellfarbenen „Sonnenuntergang über dem Meer“ von Eugène Boudin, der gleich zu Beginn zu sehen ist. Blau, Schwarz und Orange verschwimmen hier zu einem energischen und mitreißenden Farbrausch.

Die ausgestellten Werke sind in der Royal Academy über drei Räume verteilt. Dass die Kuratoren eine strenge Auswahl getroffen und die Anzahl der Exponate begrenzt haben, erhöht dabei den Effekt der einzelnen Werke. Die Vielfalt ist trotzdem groß: Landschaften und Stillleben sind ebenso zu sehen wie Porträts und jene Momentaufnahmen des urbanen Lebens, die nicht zuletzt durch die Impressionisten zum Sinnbild der Moderne wurden.

Der Junge ist natürlich die Vorstudie für die zentrale Figur auf Georges Seurats Großformat  „Badegäste in Asnières“ von 1884 in der Nationalgalerie London, aber ein Jahr zuvor in Kohle auf Papier entworfen wirkt er völlig anders.


Der Junge ist natürlich die Vorstudie für die zentrale Figur auf Georges Seurats Großformat „Badegäste in Asnières“ von 1884 in der Nationalgalerie London, aber ein Jahr zuvor in Kohle auf Papier entworfen wirkt er völlig anders.
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Bild: National Galleries of Scotland

Unter den Ausstellungsstücken ist viel Überraschendes, beispielsweise die 1886 angefertigte Schwarz-Weiß-Zeichnung einer Renaissancebüste von Vincent van Gogh, deren klassische Perfektion einem gänzlich anderen ästhetischen Ideal folgt als jene halluzinatorischen Selbstporträts, die van Gogh nur wenige Monate später gemalt hat. Im Spannungsfeld zwischen traditionellen Stilen und Experiment bewegen sich auch die frühen Arbeiten von Renoir und Cézanne, die in der Royal Academy zu sehen sind.

Wer kennt schon Van Goghs gezeichnete Renaissancebüste?

Besonders auffallend sind die Papierzeichnungen von Edgar Degas. Im Gegensatz zu den oft filigranen Gemälden von Balletttänzerinnen, für die Degas bekannt ist, sind seine Zeichnungen selbiger deutlich abstrakter. Auf einer davon sieht man eine gähnende Tänzerin der Pariser Oper. Es ist ein kurzer Moment des Innehaltens, den Degas mit nur wenigen Strichen festhält. Was die Zeichnung sofort ins Auge stechen lässt, ist jedoch der grellgrüne Hintergrund. Die gefärbten Papiere, mit denen Degas damals oft arbeitete, waren ein Produkt jener durch die Industrialisierung ermöglichten Farbexplosion, die der Kunsthistoriker James Fox jüngst in seinem Buch „Die Welt im Licht der Farbe: Eine Kulturgeschichte“ beschrieben hat. Die Art und Weise, wie Degas bei seinen Skizzen mit blendenden Farben einen Irritationseffekt schafft, nimmt bereits spätere künstlerische Avantgarden wie etwa den Fauvismus vorweg.

Der letzte Teil der Schau widmet sich denn auch einigen jener Künstler der Neunzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts, die in ihren Zeichnungen die Ideen des Impressionismus aufgegriffen und weiterentwickelt haben. Dazu gehört Henri de Toulouse-Lautrec, der in den Varietétheatern, Bordellen und Cafés des Montmartre die Inspiration für seine Werke fand. Eine meisterhafte Zeichnung von ihm aus dem Jahr 1899 zeigt eine grotesk wirkende Zirkusprobe, in der Abgründigkeit und Unterhaltung zusammenfließen. Ebenso sensationell sind die traumwandlerischen Arbeiten von Odilon Redon, der wie Monet eine Faszination für gotische Kathedralen hatte. Auf einer seiner Zeichnungen sticht zunächst ein blau-golden leuchtendes Kirchenfenster aus einer düsteren Szenerie hervor. Je näher man herantritt, desto intensiver werden jedoch die Konturen der umgebenden Dunkelheit, bis die Verwitterung der opulenten, mit dunkelgrau-schwarzer Kohle gezeichneten Säulen und Fensterrahmen geradezu greifbar scheint.

Traumwandlerisches Bouquet: In Pastellkreide wirkt Odilon Redons „Ophelia unter den Blumen“, um 1905-08 entstanden, noch schwerenloser als in Öl


Traumwandlerisches Bouquet: In Pastellkreide wirkt Odilon Redons „Ophelia unter den Blumen“, um 1905-08 entstanden, noch schwerenloser als in Öl
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Bild: The National Gallery, London

Obwohl nicht alle Exponate gleich eindrucksvoll sind, gelingt es der Ausstellung insgesamt famos, noch einmal einen ganz neuen Blick auf den Impressionismus zu ermöglichen. Es gehört ja zu den Paradoxien der Kunstgeschichte, dass der spätere Erfolg des Impressionismus mitunter die Radikalität seiner ursprünglichen Erneuerungsimpulse verdeckt hat. In der Royal Academy wird noch einmal das Avantgardistische jener Kunst sichtbar, die, wie der Schriftsteller und Kritiker Edmond Duranty 1876 schrieb, mit flüchtigen Zeichnungen die „Essenz des Lebens“ einfange.

Impressionists on Paper: Degas to Toulouse-Lautrec. Royal Academy of Arts, London; bis 10. März. Der Katalog kostet 25 Pfund.

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