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#Die tiefen Wunden der Ein-Kind-Politik

Die tiefen Wunden der Ein-Kind-Politik

Lexi Palubiak wurde kurz nach ihrer Geburt auf einem Bauernhof in der chinesischen Provinz Sichuan zurückgelassen. Es war Winter im Jahr 1988. Ihre Eltern hatten sie in eine Decke gewickelt und einen Zettel dazugelegt, auf dem Tag und Uhrzeit ihrer Geburt standen. Vierter April, vier Uhr. Dreimal vier: In China bedeutet das nichts Gutes. Das Wort für vier klingt auf Chinesisch wie sterben. Doch Lexi hatte Glück. Sie wurde von Bauern gefunden, die sie zu sich nahmen, bis sie fünf oder sechs Jahre alt war. Dann brachten die Pflegeeltern sie in ein Waisenhaus in der Millionenstadt Chongqing, weil das Mädchen keine Geburtsurkunde hatte und sie es deshalb nicht einschulen konnten. Außerdem hatte die Familie schon einen Sohn, und mehr Kinder waren nicht erlaubt. Lexi heißt heute Lexi, weil sie später von einem amerikanischen Ehepaar adoptiert wurde. Bis zum 14. Lebensjahr hieß sie Jin Yan.

Friederike Böge

Politische Korrespondentin für China, Nordkorea und die Mongolei.

So wie sie wurden in China Hunderttausende Mädchen zwischen 1980 und 2015 an Straßen, Plätzen und Bahnhöfen ausgesetzt. Grund dafür war die Ein-Kind-Politik. Die meisten Eltern wollten lieber einen Sohn, der sich der Tradition zufolge im Alter um sie kümmern sollte. Und sie konnten sich die hohen Strafzahlungen für ein zweites Kind nicht leisten. Die Waisenhäuser waren rasch überfüllt und finanziell überfordert, sodass China 1985 damit begann, Kinder ins Ausland zu vermitteln. Laut einem Bericht des amerikanischen Pew Research Center wurden allein in den Jahren 1999 bis 2016 fast 270.000 chinesische Kinder von ausländischen Eltern adoptiert. Fast ein Drittel von ihnen lebt in den USA. Anfangs waren es zu 98 Prozent Mädchen.

„Sie hätte mich auch töten können“

Inzwischen sind die meisten von ihnen erwachsen. Sie haben Lebensphasen durchlaufen, in denen Fragen nach dem eigenen Ich eine große Rolle spielen. Manche haben inzwischen selbst Kinder, so wie Lexi, deren Tochter vier Monate alt ist. Seit der Geburt gehen ihr zwei Gedanken nicht mehr aus dem Kopf. Die Bedürfnisse ihrer Tochter nach Bindung und Wärme hätten ihr „bewusst gemacht, wie sehr ich meine Eltern gebraucht hätte, und dass das der Grund ist, warum ich sie gehasst habe“, sagt die 33 Jahre alte Amerikanerin in einem Videogespräch. Als Mutter verstehe sie nun aber auch, „wie schwer es für meine Mutter gewesen sein muss, mich loszuwerden“. Lexi ist sich sicher, dass ihre Mutter sich noch immer jeden Tag fragt, was aus ihrer Tochter geworden ist. „Ich möchte ihr gern sagen, dass es mir gut geht. Ich will, dass sie weiß, dass die Entscheidung, die sie getroffen hat, nicht unbedingt eine schlechte war. Sie hätte mich auch töten können.“ Sobald die Pandemie vorbei ist, will sie mit Kind und Mann nach China reisen.

Vor elf Jahren hat Lexi schon einmal versucht, ihre leiblichen Eltern zu finden. Während eines Studiums in China schaltete sie Anzeigen in der Lokalzeitung und fragte in dem Waisenhaus in Chongqing nach. Immerhin fand sie die Pflegeeltern, bei denen sie ihre ersten Jahre gelebt hatte. Viel hat sie davon nicht mehr in Erinnerung. Eine schäbige Wohnsiedlung. Ein Nudelrestaurant. Eine Bäuerin, einen Fabrikarbeiter. Sie erinnert sich weder an deren Gesichter noch an deren Namen. „Vielleicht versuche ich unbewusst, die Erinnerung auszublenden“, sagt Lexi. Stärker präsent ist ihr die Begegnung mit der Direktorin des Waisenhauses, die ihr damals bei der Adoption geholfen hatte. Während des Wiedersehens bat sie Lexi, Geld zu schicken und sie zu sich in die USA zu holen. „Das brach mir das Herz. Ich hatte gedacht, dass sie mir wirklich helfen wollte. Dann verstand ich, dass sie nur sich selbst helfen wollte.“ Für jemanden, dem es schon immer schwergefallen ist, Erwachsenen zu vertrauen, muss das besonders hart gewesen sein.

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