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#Die Türmer-Erfahrung: Schelli wacht eine Stunde über München

Die Türmer-Erfahrung: Schelli wacht eine Stunde über München

Der Türmer ist eine Performance von Joanne Leighton, die vom 12.12.2020 bis zum 12.12.2021 in München stattfindet. Die Choreografie findet seit 2011 jedes Jahr in einer anderen Stadt statt. Dabei werden 730 Menschen für jeweils eine Stunde zu „Türmern“, sprich Wächter*innen der Stadt. Zweimal am Tag, nämlich zu Sonnenauf- und Sonnenuntergang, steht der Türmer (ob weiblich, männlich oder divers: der Begriff „Türmer“ schließt alle mit ein) dazu in einer extra gebauten Holzkonstruktion allein auf dem Dach des Gasteigs. Während dieser Stunde gilt es, präsent da zu stehen, München zu beobachten und sonst nichts zu machen. Nach der Stunde halten die Türmer ihre Gefühle in einem Buch fest, welches später veröffentlicht wird. Unser Autor Schelli durfte am 6. Mai 2021 auch Türmer sein und berichtet euch hier von seiner Erfahrung:
Die erste Erfahrung ist mein Wecker. Er klingelt zu einer Uhrzeit, die so früh ist, dass ich sie schon wieder verdrängt habe. Ich weiß, es stand eine Vier am Anfang. Das letzte Mal, dass ich diese Nummer vorne auf meinem digitalen Zifferblatt gesehen habe, bin ich aus einem Club gefallen. Jetzt also aus meinem Bett. Es geht relativ leicht, die Angst, eine wichtige Choreografie zu verschlafen, befeuert das Adrenalin. Schwarzer Tee als Frühstück. Dicke Winterjacke und Stiefel, ab zum Nachtbus. Draußen nieselt es Schneeregen, einen Sonnenaufgang sehe ich heute sicher nicht. Das Wetter ist so mies, es würde mich nicht wundern, wenn der MVG-Bus Richtung Alpen abbiegen würde und das alles einfach eine Ski-Tagesfahrt wäre.

Alles läuft so glatt. Zu glatt.

Stattdessen ist es Mai und der Busfahrer setzt mich wenig später am Regerplatz ab, von wo ich zum Gasteig gehe. Niemand auf der Straße und plötzlich fällt mir wieder ein, warum ich manchmal so gerne sehr spät aus Clubs gefallen bin. Es gibt Momente, in denen hast du München ganz für dich allein. Inzwischen bin ich komplett wach, kann jedoch nicht aufhören zu gähnen. Vielleicht ist mir auch einfach kalt. Noch schnell ein Selfie-Video für die Story machen. Sehr angenehm, niemand hört mir zu, wie ich um fünf Uhr morgens mit meinem Handy rede.
Alles läuft so glatt. Mich beschleichen erste Zweifel, ob das überhaupt der richtige Tag ist. Ich komme zehn Minuten zu früh am Gasteig an. Eigentlich soll mich meine Betreuerin hier empfangen, sie wird wohl noch auftauchen. Es werden zehn lange Minuten, in denen ich plötzlich wieder sehr müde und gleichzeitig sehr aufgeregt werde. Das Handy in paranoidem Dauerblick, mittlerweile sind es 15 Minuten. Bin ich am richtigen Eingang? Hat sie verschlafen? Ich ruf jetzt an! „Na, das ist mir ja noch nicht passiert, dass mich der Türmer anruft. Normalerweise ist es anders herum. Ich bin gleich da, keine Sorge.“ Plötzlich sehe ich, wie mir eine Frau entspannt durch die Eingangshalle des Gasteigs entgegen schreitet.

Kurze Begrüßung, dann einige Treppen, die ich davor noch nie bemerkt hatte. Plötzlich sind wir auf dem Dach des Gasteig. Aber es ist noch zu früh für meine Türmer-Stunde, also gehen wir statt zur Holzkonstruktion, die wie ein Vorsprung auf das Dach gebaut wurde, in einen kleinen Raum, dessen sonstige Funktion mir schleierhaft bleibt. Wir sitzen in einem 1,50 Meter breiten Schlauch und starren auf die Betonwand vor uns. Ein nettes Gespräch über dies und das, doch das macht mich nur wieder müde. Ich will jetzt türmen! Noch mal schwarzer Tee. Was mache ich eigentlich, wenn ich während des Türmens aufs Klo muss? Ich lasse den Becher stehen.

Versuche, nicht auf die Uhr zu achten!

Dann ist es soweit, 5:45 Uhr. Wir erklimmen das Baugerüst. Inzwischen hat der Himmel von blau-schwarz auf milchig-grau gestellt. Einen Sonnenaufgang sehe ich heute sicher nicht. Die Aussicht ist trotzdem überwältigend. Wir betreten den Holzkasten, vorne sehe ich die Glaswand, durch die ich gleich eine Stunde lang schauen soll. Erste Überraschung: Es ist sehr warm hier. Irgendwie schön und störend zugleich. Gib mir ein Kissen und ich wäre weg. „Versuche, nicht auf die Uhr zu achten!“ Mit diesen Worten entlässt mich meine Betreuerin in meine Türmer-Erfahrung.
Welche Uhr denn, Handys und Uhren sind doch nicht erlaubt? Egal. Mit drei großen Schritten stehe ich vorne im Kasten. Gute Haltung annehmen, so wie mir das die Tänzer im Vorbereitungscall vorgemacht haben. Passt. Ein erster Ausblick. Direkt vor mir ist das Müller’sche Volksbad mit seinen ikonischen Bädern, seinen gelben Wänden und seiner blau-goldenen Uhr. Es ist 5:48 Uhr. Ah, verdammt. Vergiss es, vergiss es, verdrängen! Wem mache ich was vor? Ich stehe allein in einem Raum, mit nichts um mich abzulenken, als ob ich da die Uhrzeit vergessen würde. Es ist also 5:50 Uhr und ich stehe jetzt eine Stunde über München.

Hoffentlich schaffe ich es überhaupt, so lange zu stehen. Das wäre eine Story. Der Mit-Vergnügen-Typ klappt im Türmer zusammen, weil er seinen Bürostuhl nur zum Essen verlässt. Einfach ein bisschen wippen, den Rücken und die Knie in ausgeglichener Position. Andererseits bin ich vielleicht noch nie eine Stunde einfach nur dagestanden. Hey! Du sollst türmen, also konzentriere dich mal auf deinen Ausblick. Ein paar Autos, keine Feuer, alles friedlich. Türmer durchgespielt. Eigentlich könnte man hier auch wunderbar den Minuten-aktuellen Wetterdienst spielen, ich kann zum Beispiel ganz klar erkennen, einen Sonnenaufgang sehe ich heute sicher nicht. Stattdessen noch mehr Regen.
Ich wäre ja schon lieber abends dran gewesen. Wird wahrscheinlich auch kein krasser Sonnenuntergang heute, aber dann wäre ich nicht so müde und es wäre bisschen was los. Ganz toll, du bist einer von, was, 700 Menschen, die überhaupt jemals diese Aussicht genießen dürfen? Ein Privileg und du beschwerst dich auch noch. Snob. Ob schon mal jemand mit so wenig Ehrfurcht vor dem Projekt auf den Turm gestiegen ist? Ich frag mich ja auch, was die anderen am Ende in das Buch schreiben. 6:03 Uhr. Verdammt.
Was gibt es denn außer diesem Volksbad noch zu sehen? Da ist die Muffathalle, wo schon lange kein Konzert mehr war. Hier das Blitz, da hat auch schon ewig keiner mehr gefeiert. Ok, bitte etwas anderes als geschlossenes Nachtleben. Ein Fahrradfahrer mit Sicherheitsweste. Bisschen übertrieben um diese Uhrzeit. 6:11 Uhr. Vielleicht sollte ich einfach nicht mehr geradeaus schauen. Am unteren Rand meines Sichtfelds fahren Lieferwagen und Laster mit Essen ins Bild. Weiter oben wird die Szene von sehr vielen Kränen unterbrochen. Noch ein Radlfahrer, wieder Sicherheitsweste.

Erste Anzeichen von längerem Stehen. Kein Problem, dann mache ich halt einen kleinen Ausgleichsschritt nach vorne. Weit genug von der Scheibe entfernt, wir haben immer noch Corona, drücke ich mir meine Nase gespielt am Glas platt und schaue nach ganz unten. Eigentlich habe ich ja leichte Höhenangst, aber dieser Kasten wirkt so stabil, kein Problem. Noch ein Radlfahrer, schon wieder mit Sicherheitsweste, was ist mit den Menschen? Oder mit mir, ich hab noch nicht mal einen Helm. Andererseits habe ich ja manchmal noch nicht mal ein Fahrrad. Das kann ich aber auch nicht in das Buch schreiben.

Wer hätte gedacht, dass Sicherheitswesten was taugen.

Inzwischen hat sich ein verschwommener Kreis in der Mitte meines Sichtfelds gebildet. Ganz praktisch, würde er nicht fast bis zu den Rändern der Scheibe reichen. Also den Filter wieder löschen. Siehe da, es ist 6:25 Uhr. Der Regen hat zwar aufgehört, aber einen Sonnenaufgang sehe ich heute sicher nicht. Dafür einen Radlfahrer ohne Sicherheitsweste, der prompt fast von einem „Frische Früchte“-Truck beim Abbiegen hops genommen wird. Knappe Kiste. Wer hätte gedacht, dass Sicherheitswesten was taugen.

Eine Erfahrung muss nicht lebensverändernd sein, um Eindruck zu hinterlassen

Jetzt ist es 6:32 Uhr und was hast du eigentlich gemacht? Versucht, zu Stehen. Das klappt erstaunlich gut. Versucht, nicht auf die Uhr zu schauen. Gescheitert. Ansonsten? Fahrradfahrer gezählt. Über Baukränen und leeren Clubs kurz depressiv geworden. Das Wetter bemängelt. Wo bleibt die große spirituelle Erfahrung und was zur Hölle schreibst du in dieses Buch? Immerhin bist du ja Journalist oder Blogger oder zumindest jemand, der was mit Worten macht. Gibt bestimmt welche, die ihre Erfahrung einfach nur beschreiben. Dann die auf der ersten Meta-Ebene, die irgendwas Großes gefühlt haben. Doppelte Meta-Ebene, nichts gesehen, alles sinnlos. Mache ich noch eine Dritte auf? Vielleicht schreib ich einfach was über die Radlfahrer, das ist doch kreativ. Du Pfeife!
Einen Sonnenaufgang sehe ich heute sicher nicht. Das riesige Zifferblatt zeigt 6:40 Uhr. Sie Sonne ist längst aufgegangen. Hinter den Wolken. Ich bin irgendwie trotzdem glücklich. Glücklich, rechtzeitig aufgewacht zu sein. Glücklich, es geschafft zu haben, zu stehen. Glücklich, dass der Radlfahrer nicht überfahren wurde. Und glücklich, beim Türmer mitgemacht zu haben. Auch ohne Sonnenaufgang und lebensverändernde Erfahrung. Ich konnte mal wieder richtig über meine Gedanken nachdenken, abschweifen. Es mag ein Armutszeugnis meiner Aufmerksamkeitsspanne sein, aber diese Zeit nehme ich mir sonst nicht. Es klopft an der Tür. Ein letzter Blick auf das Müller’sche Volksbad. 6:47 Uhr. Ein paar Autos, keine Feuer, alles friedlich.
Falls ihr auch mal über München wachen wollt, die Anmeldung für die letzte Runde an Türmern startet am 1. Juli 2021. Schnell sein lohnt sich! Mehr Infos findet ihr hier.

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