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#Die unheimlichste Stelle

Die unheimlichste Stelle

Ein wenig Schlafsucht bringt mich mehr ins Arge
als zweieinhalb Jahrtausende zuvor der Schatten,
der Neptun staunen ließ: die Heldenfahrt der Argo.

Un punto solo m’è maggior letargo
Che venticinque secoli a la ’impresa,
Che fé Nettuno ammirar l’ombra d’Argo.

(Paradiso XXXIII, 94–96, übersetzt von Durs Grünbein)

Dante lesen, heißt eine lange Wanderung unternehmen. Der Dichter-Erzähler und sein Vers, die geschmeidige Terzine, dieses unaufhörlich rollende Transportband, sind immerfort in Bewegung, selbst da, wo sie Halt machen in Betrachtung, Rückblick und Gespräch. Man liest, hält kurz inne und wird sofort weitergezogen. Meist ist es Vergil, der antike Seelenbruder, der zur Eile antreibt, und wenn er endlich zurückbleibt am Fuß des Läuterungsberges, kommen andere, die an seiner Stelle die Führung übernehmen und Dante vorwärtsdrängen. Bald wünscht man sich Landkarten, um das Ganze zu überblicken.

So erging es nicht nur mir, sondern offenbar auch den frühesten Illustratoren. Nach den ersten rein szenischen Illuminationen entstand das Verlangen nach einem Gesamtprospekt. Das Mappenwerk mit den figurae universale, das die neun Höllenkreise, die sieben Terrassen (Ringe) des Purgatorio, die sieben Planetensphären samt Fixstern- und Kristallhimmel und den Lichtsee, an dem Maria thront, detailliert verzeichnet, würde ein eigenes Bilderbuch füllen. Solche topographischen Rekonstruktionen finden sich, ausgehend von Botticellis berühmtem Kegelschnitt durch den Höllentrichter (um 1480), bis in unsere Zeit.

Typisch für das Verlangen nach Orientierung in dem weitläufigen Lehrgedicht ist eine Ausgabe, mit der ich aufgewachsen bin, die eines gewissen Philaletes. Der sächsische König Johann, einer der vielen deutschen Übersetzer, oder seine Herausgeber haben seiner Fassung der Göttlichen Komödie von 1840 außer einem Plan von Florenz einen ganzen Anhang ausfaltbarer Grundrisse beigefügt, die man beim Lesen neben den Text legen konnte. Denn Orientierung tut not bei dieser Reise ins Unbekannte.

Die Stelle, die mich am meisten fasziniert, findet sich ziemlich am Ende, im letzten der 99 Gesänge. Mit ihren wechselnden Raumperspektiven, den Sprüngen über Bergklippen und Abgründe, an Felslöchern und Eisseen vorbei, ist dieser Reisebericht unübersichtlich wie kein anderer. Ein Geograph hätte Mühe, den Weg zum Erdmittelpunkt und hinauf zum Sternenhimmel, der damals noch nicht den uns bekannten Aussichten auf die vielen Galaxien mit ihren Schwarzen Löchern entsprach, kartographisch zu folgen. Immer wieder Abzweigungen, Rundwege, auch Umleitungen, Abseilaktionen, Überfahrten auf Schiffen und sogar Flüge (mittels Adlerschwingen, noch nicht mit den Flugapparaten des Lionardo da Vinci). Und nachdem alle Hürden genommen sind, kommt die Schwierigkeit, ohne weitere Hilfsmittel in den Himmel vorzustoßen. Hier extrapoliert Dante ein wenig, suspendiert das Problem der Schwerkraft. Er wird, in der Logik des Glaubens, einfach erhoben. Nachdem er die letzten Sphären – heute würde man sagen, die Stratosphäre, die Ionosphäre – durcheilt hat, kommt ein letzter Perspektivwechsel. Einer, der Raum und die Zeit, die christliche und die griechisch-mythische und selbst die historische (die bei ihm, lange vor Hegel, als Betrachterstandpunkt immer mitschwingt), nochmals dreht in der Gegenüberstellung von Terra und Kosmos. Das ist Dante. Das konnte als Dichter in dieser Frühzeit nur er, Jahrhunderte vor den großen raumgreifenden Expeditionen der Weltumsegler. Wieder zeigt es sich: Dante war einer der visuell wirkmächtigsten Dichter aller Zeiten.

Wir sind im Schlußgesang. Gleich hat die Wanderung durch die drei Reiche ein Ende mit einem letzten Ausblick, der nur ihm als gewöhnlichem Erdenbürger mit eigenen Augen vergönnt war. Bevor der Erzähler, geblendet vom Licht, in stummer Himmelsschau zur Ruhe kommt, wirft er einen letzten Blick zurück – in die Tiefen des Ozeans. Von dem wir heute wissen, daß er an seiner tiefsten Stelle (Marianengraben), zirka 2500 Kilometer in der Länge mißt. Es ist das Reich Poseidons. Aber Dante war Lateiner, also ist die Rede von Neptun. Eine letzte Drehung, eine von vielen in diesem Gedicht, dem die Dynamik des Immerweiter von Anfang an eingeschrieben war. Dem Blick auf die Erde herab korrespondiert der Blick aus den Meerestiefen herauf. Neptun kann nur staunen, als er den Schatten der Argo sieht – das Schiff der Argonauten, unterwegs auf der Jagd nach dem Goldenen Vließ, eine der frühesten Expeditionen der globalisierungssüchtigen Menschheit. Zweieinhalb Jahrtausende schrumpfen zu einem Augenblick.

Noch einmal sind die Relationen verschoben: Nicht nur Jupiters Reich, auch das des Meeresgottes, der über die Gewässer herrscht, die Dante und seinen Zeitgenossen, wie damals die Völker am Mittelmeer, gehörig Angst einjagten, ist seit langem entthront. Man stelle sich einen Gott vor, der von den Unternehmungen der Menschheit (impresa) eines Tages überrumpelt wird. Als Taucher ist mir das Bild vertraut: der unheimliche Moment, wenn ein großer Schiffskörper die Wasserfläche schneidet und seinen Schatten in die Tiefe wirft. Die Stelle ist etwas vieldeutig, bis heute erklärungsbedürftig. Meine Interpretation: Wenn Dante, der christliche Augenzeuge, nur einen Moment lang schwächelt und einschläft, könnte er leicht in die Position des alten Meergottes geraten, den eine Erscheinung aus der Zukunft aufschreckt (etwa die Mond- und Marsmissionen unserer Gegenwart). Es ließe sich als ein Bild für das Erschrecken über den Fortschritt deuten. Einmal nicht aufgepaßt, und die Welt ist eine andere, von der stets umtriebigen Menschheit verändert – ein neues Zeitalter hat begonnen.

Durs Grünbein ist Dichter. 1995 erhielt er den Büchner-Preis.

Alle bisherigen Folgen unserer Serie finden Sie unter www.faz.net/dante.

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