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#Tunesiens Präsident weitet den Ausnahmezustand aus

Tunesiens Präsident weitet den Ausnahmezustand aus

Der tunesische Präsident greift durch. Nach der Entmachtung der Regierung verhängte Kaïs Saïed einen Lockdown über das ganze Land, der auch das politische Leben praktisch zum Stillstand bringt: Versammlungen von mehr als drei Personen sind verboten, die nächtliche Ausgangssperre wird bis Ende August auf 19 Uhr vorgezogen, Reisen zwischen den Städten des Landes sind untersagt.

Das hat natürlich auch mit der verheerenden Corona-Welle zu tun. Doch kein Bild beschreibt die politische Lage so treffend, wie das der Soldaten vor dem Parlament in Tunis, die auch am Dienstag den Abgeordneten den Zugang verwehren – Saïed hat sie für einen Monat nach Hause geschickt. Nach zum Teil gewaltsamen Zusammenstößen kehrte am Dienstag auch vor dem Parlament Ruhe ein.

„Größte Gefahr ist eine innere Explosion“

Zuvor hatte Saïed sein Vorgehen in einer Videobotschaft verteidigt. „Die größte Gefahr für eine Nation ist eine innere Explosion“, warnte er. In Gesprächen mit Vertretern der Zivilgesellschaft soll er beteuert haben, dass er die Bürgerrechte respektieren werde und keine Diktatur wolle. Gleichzeitig weitete er aber seine Kompetenzen noch aus: Er setzte nicht nur den Regierungschef Hichem Mechichi ab, der zugleich das Amt des Innenministers innehatte. Saïed entließ auch den Verteidigungsminister und die amtierende Justizministerin. Alle Schlüsselressorts sind damit letztlich unter seiner Kontrolle.

Westliche Regierungen, die mit Milliarden Euro seit Jahren die tunesische Demokratie am Leben erhalten, schrecken aber immer noch davor zurück, offen von einem „Putsch“ zu sprechen. So fielen zumindest die ersten Einschätzungen aus dem Auswärtigen Amt in Berlin und dem State Department in Washington aus. Der amerikanische Außenminister Antony Blinken forderte die tunesische Führung nur allgemein dazu auf, die „Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte“ zu achten.

Für die angesehene tunesische Verfassungsrechtlerin Sana Ben Achour ist dagegen völlig klar, dass es ein Staatsstreich war: Der Präsident habe sich selbst alle Befugnisse übertragen, „damit ist Tunesien wieder dem Club der Diktatoren beigetreten“, sagte sie der Zeitung L’Humanité. Saïed hält sie ein „sehr messianisches Selbstverständnis“ vor. Er wolle offenbar als „Vater der Nation“ Tunesien retten und habe dabei den Boden der Verfassung verlassen.

Spitzname „Robocop“

Der Präsident hatte sich bei der Entlassung des Ministerpräsidenten auf Artikel 80 der Verfassung berufen. Mit vagen Worten gibt er dem Staatschef das Recht, „im Falle einer unmittelbaren Gefahr, die die Nation oder die Sicherheit oder Unabhängigkeit des Landes bedroht und die ordnungsgemäße Tätigkeit der Staatsorgane behindert, erforderliche Maßnahmen“ zu ergreifen. Dafür muss er jedoch das Verfassungsgericht konsultieren sowie den Parlamentspräsidenten und den Regierungschef informieren.

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Letzteres ist angeblich nicht geschehen – und ein Verfassungsgericht existiert nicht. Obwohl die Verfassung aus dem Jahr 2014 das verlangt, wurde es bis heute nicht geschaffen. Seit Monaten verhinderte das ein erbitterter Parteienstreit über die Richterwahl, der ein Schlaglicht auf die politische Blockade des Landes wirft. Zudem sieht der Verfassungsartikel vor, dass das Parlament in „permanenter Sitzung“ tagt. Saïed hat indes dessen Tätigkeit einen Monat lang „eingefroren“.

Eigentlich kennt der Präsident die Verfassung genau. Der parteilose Außenseiter war Juradozent, bis er im Herbst 2019 überraschend die Präsidentenwahl gewonnen hatte. Im Wahlkampf hatte der hagere Jurist versprochen, die Verfassung gegen korrupte Parteipolitiker zu verteidigen. Seinen Sieg – fast 73 Prozent in der Stichwahl – nannte er dann in Anspielung auf den friedlichen Umbruch im Jahr 2011 eine „zweite Revolution“. Der heute 63 Jahre alte Politiker, der wegen einer monotonen Mimik den Spitznamen „Robocop“ trägt, ist eher ein konservativer Revolutionär: Homosexualität hält er für eine Krankheit, die weiter bestraft werden sollte. Das Parlament will er am liebsten durch lokale, basisdemokratische Volkskomitees ersetzen.

Gewerkschafter rufen zum Dialog auf

Seit seinem Amtsantritt ging es ihm vor allem um die eigene Macht, die er gegenüber Parlament und Regierung schonungslos durchzusetzen versuchte. So weigerte er sich seit Januar, die neuen Minister zu ernennen, die der am Sonntag entlassene Ministerpräsident Hichem Menichi ausgewählt hatte. Auch sein Anspruch, er sei nicht nur Oberbefehlshaber der Armee, sondern sämtlicher Sicherheitskräfte, stieß auf heftigen Widerspruch, der vor allem von der islamistischen Ennahda-Partei kam. Der Vorsitzende der größten Partei in Tunesien, Rached Ghannouchi, hatte sich als Präsident des Parlaments dort ein politisches Machtzentrum geschaffen. Seit Sonntagabend hat der Staatspräsident auch für ihn die Tür zum Parlament verschlossen.

Saïeds vor zwei Jahren verstorbener Vorgänger Béji Caïd Essebsi hatte sich im Präsidentenamt als väterlicher Schlichter hervorgetan, der in kritischen Phasen der jungen Demokratie zwischen den politischen Kräften vermitteln konnte. Nach dem Paukenschlag am Sonntag startete sein Nachfolger nun eine regelrechte Gesprächsoffensive. Während die meisten Parteien seinen jüngsten Schritt ablehnten, traf er sich mit den großen Organisationen des Landes.

Eine wichtigere Rolle könnte dabei der mächtige Gewerkschaftsverband UGGT spielen. Die Gewerkschafter verurteilten das Vorgehen des Präsidenten nicht ausdrücklich. Sie teilten sogar seine Analyse der Lage und riefen zum Dialog auf, zu dem die Tunesier schon einmal fähig waren, als ihr Land nach 2011 am Rande des Bürgerkriegs stand. Im Jahr 2015 hatte das sogenannte Quartett für den nationalen Dialog, dem auch die UGTT angehörte, dafür den Friedensnobelpreis erhalten. Saïed versprach jetzt seinen Gesprächspartnern, er wolle sich an alle Fristen und Vorgaben halten. Gespannt wartet man in Tunis darauf, wie zügig er welchen Politiker zum neuen Regierungschef ernennt.

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