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#Drei Winter sind genug

Drei Winter sind genug

Wie Helvetien denn sei, so als Land, fragt der Druide des kleinen gallischen Dorfes die beiden Heimkehrer aus der Schweiz, und Obelix antwortet mit einer wischenden Armbewegung: „Flach.“ Ebenso ab­surd klingt die Auskunft, die man auf die Frage geben müsste, wie die Berlinale in diesem Jahr gewesen ist: Sie war kurz. Denn die Berliner Filmfestspiele waren nie kurz und nur selten kurzweilig. Sie zogen sich hin, sie uferten aus, und mit einem Angebot von fast vierhundert Filmen überforderten sie auch ihre aufnahmefähigsten Zuschauer. Aber in dieser Überforderung lag ihre Qualität. In Berlin, das spürte man, war so gut wie alles zu sehen, was in der Welt des Kinos Gewicht hatte, außer vielleicht dem Dutzend Meisterwerke, das später in Cannes oder in Venedig lief. Die Fülle, die Breite und die Länge waren das Vorrecht dieses Festivals, bis vor zwei Jahren, kurz nach dem Ende der Filmfestspiele, die Pandemie zuschlug.

Seither ist alles anders. Nachdem die Berlinale 2020 noch Glück gehabt hatte, fiel sie im Jahr darauf de facto aus – auch wenn nach dem „industry event“ im März ein Goldener Bär verliehen wurde –, während ihre beiden Konkurrenten in gewohntem Glanz zurückkehrten. Dass sie in diesem Jahr überhaupt stattfinden darf, ist ein Va­banquespiel der Kulturpolitik, das sich of­fenbar ausgezahlt hat, denn die Filmfestspiele sind nicht zum Corona-Hotspot ge­wor­den. Wie sehr das Virus dennoch den Alltag des Festivals bestimmt, zeigte sich an der Absage von Isabelle Huppert. Am Dienstag sollte sie den Goldenen Bä­ren für ihr schauspielerisches Le­benswerk in Empfang nehmen; am Montagabend kam die Nachricht, dass sie wegen einer Corona-Infektion in Paris bleiben musste. Die Gala am Potsdamer Platz fand ohne sie statt.


Bild: Kat Menschik

Zur gleichen Zeit lief im Multiplexkino schräg gegenüber einer von nur zwei Filmen des diesjährigen Wettbewerbs, in de­nen die Schauspieler wie selbstverständlich Atemschutzmasken trugen. Der Koreaner Hong Sang-soo ist schon zum sechsten Mal mit einer Regiearbeit auf der Berlinale vertreten, was für die Anziehungskraft, aber auch für einen gewissen Alterungsprozess des Festivals spricht, denn das Kino wird Hong nicht mehr neu er­fin­den. Auch in „So-seol-ga-ui Yeong-hwa“, der Ge­schichte einer Schriftstellerin, die durch den Besuch bei einer alten Freundin eine Schauspielerin kennenlernt, mit der sie ein Filmprojekt realisiert, balanciert er wieder auf der Grenze zwischen dem Banalen und dem Sublimen, und vielleicht ist das Beste, was man über seinen Film sagen kann, dass er nicht wie ein Stück Autorenkino von vorgestern aussieht, obwohl er zum großen Teil in Schwarz-Weiß gedreht ist.

An die Schweiz musste man in Berlin auch deshalb öfter denken, weil ihre Berge in zwei der stärksten Filme im Wettbewerb zu sehen waren. Nach Ursula Meiers „La Ligne“ bewies Michael Kochs „Drii Winter“ ein weiteres Mal die Überlegenheit ei­nes filmischen Erzählens, das seinen Stoff erfindet, statt ihn nur zu verpacken. Die Tragödie von Anna und Marco, die sich in ei­nem ab­gelegenen Dorf ohne eigenen Hof durchschlagen, bis Marco durch einen Hirntumor zum seelischen und körperlichen Krüppel wird, hat das Kino mit an­de­ren Namen und Schauplätzen schon oft durchgespielt, aber Koch gibt ihr mit seinen Bildern einen neuen Dreh. Er gräbt sie buchstäblich in die Landschaft ein, ihre Felsen, ihre Wiesen, ihr Licht und ihren Frost. Hier oben ist jeder so allein mit sich, dass es schmerzt. Von einer Liebe, die drei Winter übersteht, hat noch keiner ge­hört. Den Ernst, mit dem Koch die Ap­pa­ratur des Kinos bedient, hat man in manchen Filmen dieser Berlinale vermisst.

Eine Familie in Nöten: Szene aus Carla Simóns „Alcarràs“, dem Gewinner der Berlinale


Eine Familie in Nöten: Szene aus Carla Simóns „Alcarràs“, dem Gewinner der Berlinale
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Bild: mk2films

Auf den 72. Berliner Filmfestspielen ging „Drii Winter“ unverständlicherweise leer aus. Stattdessen vergab die Jury unter Vorsitz des amerikanischen Regisseurs M. Night Shyamalan den Goldenen Bären an Carla Simóns „Alcarràs“, einen Film, der mit der gleichen Ernsthaftigkeit, aber in helleren Farben von der Existenzkrise einer katalanischen Bauernfamilie er­zählt. Die übrigen Auszeichnungen entsprechen der Gießkannenlogik aller großen Festivals, auch wenn man sich wundert, warum nicht Phyllis Nagys „Call Jane“, sondern der heillos verpuzzelte me­xi­ka­ni­sche Beitrag „Robe of Gems“ den Silbernen Bären gewann und Hong Sang-soo beim Großen Preis der Jury der indonesischen Regisseurin Kamila Andini („Nana“) vorgezogen wurde.

Auch der Drehbuchpreis für Laila Stieler, die Autorin von Andreas Dresens „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“, dürfte nicht je­den Festivalzuschauer überzeugen, während die Auszeichnung für Dresens Hauptdarstellerin Meltem Kaptan niemanden wirklich überrascht. Der Regiepreis für Claire Denis ist dagegen ein doppeltes Ge­schenk: Er ehrt einen Film ebenso wie eine Regisseurin, die sich auf ihrem Weg im Kino von keiner politischen oder ästhetischen Mode irre machen lässt.

Carla Simón, die Regisseurin von „Alcarràs“


Carla Simón, die Regisseurin von „Alcarràs“
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Bild: EPA

Die Berlinale hat sich behauptet. Sie ist aus dem Abgrund des letzten Jahres auferstanden, wenn auch mit Blessuren, Verlusten an Aura und Bedeutung. Ih­re strukturellen Probleme aber sind geblieben. Das Weltkino, zumal jenes aus Amerika und Fernost, ist kein selbstverständlicher Gast mehr in Berlin. Auch die Streamingdienste, die einen immer größeren Teil des Marktes beherrschen, zeigen ihre besten Produktionen nicht auf der Berlinale. Die Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek und der Programmleiter Carlo Chatrian sind jetzt seit drei Jahren im Amt. Sie werden die Filmfestspiele bald neu aufstellen müssen, um ih­re Position unter den Festivals zu halten. Mit oder ohne Pandemie.

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