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#Ein diskret vornehmer Autor

„Ein diskret vornehmer Autor“

Der schweizerische Schriftsteller Alain Claude Sulzer, der für seine psychologische Einfühlung gepriesen wird, betreibt niemals bohrende Introspektion. Seine Domäne ist die tastende Suchbewegung in den Seelen der handelnden Personen. Er liefert keine Psychogramme, er fällt keine wohlfeilen Urteile. Er bleibt auf Abstand, er wahrt Distanz, das Mittel ist seine stilistische Eleganz.

Ebendies entspricht ihm selbst, seiner Persönlichkeit. In einem Aufsatz für die „Neue Zürcher Zeitung“ unter dem Titel „I would prefer not to“ (in Anlehnung an den Spruch von Herman Melvilles Schreiber „Bartleby“) erklärte er vor ein paar Jahren, „warum ich manchmal lieber schweige“, nämlich zu der Unterstellung, „durch den Autor spreche eine höhere Macht, ein Weltwissen, Weltgewissen“. Er äußert sein Missfallen über solche Ansprüche an den Autor, denn „gewöhnlich wiederholt er lediglich das Fazit seiner Lektüren und bündelt Auffassungen, die er mit anderen teilt“. Das ist ein bisschen eine Bescheidenheitsformel, mit der geschmeidigen Ironie, über die Sulzer auch verfügt. Aber es trifft doch die Haltung hinter seinem Schreiben.

Die Protagonisten mit der Epoche verflechten

Dennoch, oder gerade deshalb, gelingt es ihm seit vielen Jahren in seinen Romanen, die individuellen Schicksale Einzelner mit der Zeit, in die hinein sie geboren wurden, zu verknüpfen, seine Protagonisten mit der Epoche zu verflechten. Dabei ist ausgerechnet die – oft schlecht beleumdete – Kunst der Beschreibung seine Stärke, in ihrer Form als Hohe Schule der Literatur. Es geht Sulzer nicht um – gar überbietende – Schilderung von innerer und äußerer Wirklichkeit, sondern darum, Prägungen und Unausweichlichkeiten, Zufälle und schuldige oder schuldlose Verstrickungen durch die Sprache sichtbar zu machen.

Seine Expositionen haben es dabei in sich, etwa in „Postskriptum“ (2015), wenn er den Lebensweg des einstigen, von den Nationalsozialisten vertriebenen Filmstars Lionel Kupfer verfolgt. Im Prolog klingen, einer Ouvertüre gleich, die zentralen Motive an, die Sulzer dann filigran verknüpft auf den Ebenen von Zeit und Raum. In „Aus den Fugen“ (2012) geschieht das Unerhörte kunstvoll wie bei einer Novelle in der genauen Mitte, wenn der Starpianist Marek Olsberg vor der Konzertpause und während Beethovens Hammerklaviersonate plötzlich mit dem Ausruf „Das war’s“ den Klavierdeckel herunterklappt und die Bühne verlässt. Beides sind Künstlerromane, wie zuletzt das großartige „Doppelleben“ (2022), das von den Brüdern Edmond und Jules de Goncourt handelt. Wieder wird ein erstes Kapitel zur Parabel auf das Kommende, ein Kutschenunfall zum blutigen Menetekel für den beginnenden physischen und psychischen Niedergang von Jules Goncourt durch die Syphilis.

Weder Roman noch Autobiographie

Durch Sulzers Texte hindurch scheint ein fundamentaler Zweifel, der von den menschlichen Makeln und der gebrechlichen Einrichtung der Welt herrührt. Glück im emphatischen Sinn ist nicht vorgesehen, aber die Viten seiner Personage sind nicht wirklich tragisch, Schicksal ist keine Kategorie, auf die er zurückgreift. Seinen Büchern ist ihre präzise Konstruktion nie anzumerken hinter der – scheinbaren – Leichtigkeit des Erzählens, die ihm seine zahlreiche Leserschaft zuführt. Über seine eigene Biographie lüftete er den Schleier ein kleines Stückchen in „Die Jugend ist ein fremdes Land“ (2017). Dort steht, fast am Ende: „Dies ist weder ein Roman noch eine Autobiographie. Das Buch hat weder Anfang noch Ende, denn an den Anfang erinnere ich mich nicht, und das Ende ist mir nicht bekannt. Es besteht aus Lücken und Erinnerungen, Ungesagtem und Gesagtem, auch aus Verschwiegenem, wohlgemerkt.“ Es sind ernste und auch witzige Momentaufnahmen dieser Jugend, darunter die bewundernswert geschilderte Szene, die ihm die Erkenntnis seiner Homosexualität brachte, aus der Sulzer nie einen Hehl gemacht, aber auch kein aktives Engagement abgeleitet hat.

Die Diskretion ist das Herzstück aller seiner Bücher, zuletzt auch von „Doppelleben“, was, in zweifacher Weise, für die Koexistenz der Brüder Goncourt und zugleich für deren Haushälterin Rose Ma­lingre gilt. Es gelingt Sulzer, sie als eigenständige Figur zu formen, während die Dramen ihres Daseins von ihren zwei Herren unbemerkt bleiben. Nach ihrem Tod werden die Goncourts sie 1862 im Roman „Germinie Lacerteux“ verewigen. Genauso widmet sich „Doppel­leben“ der luxurierenden Existenz der beiden unzertrennlichen Goncourts, ihrer Rolle im gesellschaftlichen Leben von Paris im Zweiten Kaiserreich. Dabei lässt sich Sulzer in seinen Schilderungen nicht zu vollmundiger Mimikry hinreißen. Davor feit ihn – und mit ihm die Leserinnen und Leser – seine taktvolle Zurückhaltung, seine eigene Vornehmheit im schönsten Sinne.

Für seine Romane wurde Sulzer, geboren 1953 in Riehen bei Basel, mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, darunter dem Hermann-Hesse-Preis und dem französischen Prix Médicis étranger, für einen aus einer Fremdsprache übersetzten Roman. Er ist einer der wichtigen zeitgenössischen Schriftsteller deutscher Sprache, die auch das Ausland kennt. Heute feiert Alain Claude Sulzer seinen siebzigsten Geburtstag.

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