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#Ein Epos für unsere Zeit

Ein Epos für unsere Zeit

Es ist vielleicht die überraschendste Entscheidung, die die Jury des Deutschen Buchpreises in diesem Jahr fällen konnte: Aus einer Shortlist mit lauter in den Feuilletons hochgelobten Büchern wie Thomas Hettches Marionettenbühnen-Roman „Herzfaden“ oder Christine Wunnickes just mit dem Raabe-Preis ausgezeichnetem Roman „Die Dame mit der bemalten Hand“ wählten die Juroren Anne Webers Buch „Annette, ein Heldinnenepos“ und damit das in jeder Hinsicht ungewöhnlichste Werk.

Tilman Spreckelsen

Weber widmet sich darin der Biographie einer realen Person, der 1923 in der Bretagne geborenen Anne Beaumanoir. Ihr Leben, das gekennzeichnet ist vom Widerstand gegen das als Unrecht Erkannte, bildet den Stoff für das „Heldinnenepos“, das, schreibt Weber, auf „Begegnungen mit Anne Beaumanoir und ihre mündlichen Erzählungen“ beruht sowie auf den publizierten Memoiren der heute knapp 97 Jahre alten Frau. Es ist die Geschichte eines Résistance-Mitglieds, das im Kampf gegen die deutschen Besatzer eine große Liebe findet und wieder verliert; einer Neurologin, die nach dem Krieg Karriere machte, eine Familie gründete und im Algerienkrieg Partei für die Aufständischen ergriff, mit allen Konsequenzen für ihre Familie; und schließlich einer Wissenschaftlerin, die nach dem Putsch von 1965 aus Nordafrika fliehen musste und nach Genf als Neurophysiologin an eine Klinik ging, weil sie in Frankreich eine Haftstrafe fürchten musste.

Es ist mutig, sich als Autorin eines solchen Lebens anzunehmen, schließlich muss sich die Fiktion an der überlieferten Realität messen, und sich in einem förmlichen „Heldinnenepos“ porträtiert zu sehen, ist nicht jedermanns Sache. Ebenso mutig ist es, dafür eine Form zu wählen, die längst schon als abgelebt gilt, als ein Relikt aus dem neunzehnten Jahrhundert, dem Zeitalter, in dem das Epos durch den Roman abgelöst und als Form vielfach schon parodistisch verwendet worden ist. Nur greift Weber im Grunde noch weiter aus, indem sie das Klappern der strengen Verse vermeidet und mit feinem Ohr ihre unregelmäßigen Zeilen geradezu singen lässt, beschreibende Passagen über die Zeilenenden fortführt und dann wieder Zäsuren einfügt, die das Gewichtige markieren, ohne dass dieses Verfahren zu schwergängig würde. So schildert Weber, wie ihre Heldin mit der Résistance in Berührung kommt, und resümiert: „Das Erste, dems / zu widerstehen gilt, das ist man selbst. / Der eigenen Angst.“

Weber, die aus dem Französischen übersetzt und seit vielen Jahren in Paris lebt, nimmt auch im Epos die Positionen beider Sprachen ein, wenn sie bestimmte Ausdrücke zwischen den Idiomen hin und her wendet und dabei auf Missverständnisse aufmerksam macht, die damit einhergehen, ganz so, als ginge es um Verständnisschwierigkeiten zwischen den Völkern. Und als ob sie sich an einem der mittelalterlichen Epen geschult hätte, die wir gewohnt sind, ebenfalls als „Roman“ zu bezeichnen, spricht sie uns Leser direkt an, fordert unser Mitdenken („Na, was denken Sie? Genau: sie machts.“) und unsere emotionale Beteiligung ein, aber sie ringt nicht darum, so wie überhaupt die unübersehbare Kraft der Erzählung kaum je ohne Eleganz daherkommt, und so folgt man der Autorin wie ihre Heldin mit Freude und Aufmerksamkeit, die sich nicht zuletzt aus der Beglückung speist, eine halbwegs bekannte historische Welt aus derart ungewohntem Winkel zu sehen.

Die Jury lobte daher Frische und Leichtigkeit des Buches, aber man möchte beides auch als formale Werkzeuge sehen, um eine Biographie voller Schwere und Mühsal angemessen darzustellen. Und so sollte die Auszeichnung auch zum Anlass werden, darüber nachzudenken, welchen Zugang zur Beschreibung unserer Welt die Form des Versepos eröffnen könnte.          

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