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#Ein Gedankensprung ins Nirgendwo

Ein Gedankensprung ins Nirgendwo

Unser Blick öffnete sich auf einen Hügel, der komplett mit Blut übergossen war. Solch eine glatte intensive rote Farbe, entstanden in der Natur, hatte ich niemals zuvor gesehen. Tote Schafe, ganz oder zerlegt, lagen herum, auf Lastwagen, in Haufen am Wegesrand. Es fand ein christlich-heidnisches Fest statt, überall gab es Tiere, die zum Opfern hierher geführt wurden. Das war an dem Tag, nachdem ich dieses Bild gemacht hatte.

Das schwarze Schaf springt über den Bach, als wäre es sein Schicksal. Es ist unwirklich schwarz, unheimlich, wie ein Loch im Bild. Die anderen Schafe stehen am Wasser, trinken oder laufen durch die kleinen Strömungen. Wenn ich dieses Foto nicht selbst gemacht hätte und nicht ein weiteres Dutzend Bilder des schwarzen Schafes besäße, würde ich denken, es handelte sich hier um ein Photoshop-Bild. Die Prise des Absurden in diesem Sprung, die Tatsache, dass es nur ein einziges schwarzes Schaf in dieser riesigen Herde gab – verdammt dazu, meine Aufmerksamkeit zu erregen –, auch die abgeschnittenen Berge, die den Blick einschränken – dies alles beunruhigt mich jetzt.

Es gibt Tage, an denen man so viel Schönes sieht, dass man die Erinnerung daran wie einen Vorrat benutzt, für später, die Winterzeit, für die grauen und traurigen Tage. So war auch dieser Tag. Wir befanden uns in einer merkwürdig abstrakten Landschaft: mächtige Berge, Lavagestein, rotgefärbte brodelnde Mineralquellen, Ruinen von Festungen. Ich erinnere mich an den steinigen Weg, an einen Baum mit „wollenen“ Knospen, an zwei düstere Nonnen, die aus dem Nichts auftauchten, und an diese Herde vor einem verlassenen Dorf.

Als könnte sich all dies in Luft auflösen

Woher diese Herde kam und wohin sie zog, blieb unklar, auch der Hirte war nicht in Sicht. Ich erinnere mich an dieses grüne Gras und die weißen Berge und auch an jenes Schaf, das links zu sehen ist und das mein Fotografieren skeptisch beobachtete, während die anderen Schafe an mir vorüberzogen. Ich fotografierte mit einem Gefühl, als könnte sich all dies gleich in Luft auflösen.

Das Trusso-Tal liegt in Georgien, in der Nähe des Kasbek, der 240 Meter höher als der Mont Blanc ist. In dieses langgezogene Tal gelangt man über die Große Heerstraße, die direkt nach Norden führt, nach Russland. Bis zum Ende der Sowjetunion lebten im Trusso-Tal noch Hunderte Menschen in achtzehn Dörfern, vor allem Ossen, eine kaukasische Minderheit. Noch vor dem russisch-georgischen Krieg (2008), in der Krise der Neunzigerjahre, wurde es dann fast unmöglich, hier zu überleben. Nun sind die Nonnen die Einzigen, die noch da sind. Für mich nannte ich das Tal stets „Tal der Tränen“. Hier kommt alles zusammen – die Verlassenheit und der Krieg, die offenen Wege, die durch Schluchten und Grenzen versperrt sind, und das Wunder des Anfangs: Oben, aus dem Gletscher, entspringt der legendäre Fluss Terek, der durch Georgien fließt und dann nach Russland, durch Tschetschenien und Dagestan bis ins Kaspische Meer.

Auf unserem Bild ist die Grenze mit Russland zu sehen, in der Ferne, in der sich nur sehr vage Ruinen der Türme einer ossischen Festung zeigen. Dort befindet sich der letzte georgische Grenzposten, und der war unser Ziel: Theona, die mich begleitet, bringt den Grenzsoldaten Pralinen, da sie einen Verwandten unter ihnen hat. Wir besteigen die mittelalterliche Festung und können nicht aufhören, auf die Berge, in das Tal zu schauen: Hier könnte das Ende der Welt sein.

In diesen Tagen, in denen die Nachrichten über mein Land, die Ukraine, so absurd und fatal klingen und man so über den Krieg diskutiert, als wäre der ein Tischtennisspiel, als würde es tatsächlich um die Mengen von Panzern, um irgendwelche Truppenstärken und um Interessengebiete gehen, kam dieses merkwürdige Bild wieder hoch: Es zeigt das Reale und das Mögliche, wirkt dabei aber surreal. Ich erlaube mir hier einen Gedankensprung, mit dem man im Nirgendwo landet, aber vielleicht darf man dadurch – so wie dieses Schaf – in der Luft bleiben.

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