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#Ein Nachmittag: Katja Petrowskajas Kolumne „Bild der Woche“

Auf der Suche nach Trost und Beständigkeit bin ich auf dieses Foto vom Genfer See gestoßen. Warum gibt mir gerade dieses Bild das Recht, über die aktuellen Ereignisse zu schweigen?

Eigentlich wollte ich zuerst überhaupt kein Foto. Ich dachte an eine radikale Geste – ein Text ohne Bild – und las wieder in dem Buch „Photographs Not Taken“. Der amerikanische Fotograf Alec Soth erzählt davon, dass er eher zu den „Wander“- als zu den „Heim“-Fotografen gehört, dass er reisen muss, um „seine Augen zu finden“, und dass das wichtigste Ereignis seines Lebens, die Adoption seiner Tochter in Bogotá, ohne Foto blieb. Er hatte die Kamera im Wartezimmer des Waisenhauses aufgestellt, und als die Krankenschwester mit dem Kind ins Zimmer trat, machten beide Eltern, er und seine Frau, einen Schritt aus dem Bild. Dieser Bericht klingt nach einem Gleichnis, und wieder frage ich mich, ob die Fotografie nur sich selbst darstellt oder auch die Figuren des Denkens im Allgemeinen.

Dieses Foto von einer meiner Reisen stammt aus meinem Fotoarchiv. Zuerst erinnerte ich mich nicht mehr an die genauen Umstände seiner Entstehung. Ab und zu schaue ich mir alte Fotos auf dem iPhone an. Das schlichte Knipsen hat Berge von Bildern geschaffen, die sich kaum mehr erkunden lassen. Die digitalen Archive unserer Vergangenheit sind größer als unsere Fähigkeit, sie zu sichten. Es würde uns so viel Zeit kosten, dass wir dazu ein zweites Leben bräuchten. Ich wühle oft in den Fotos, dabei gibt es keine „Berge“, und auch das „Wühlen“ ist zur Metapher geworden, denn ich scrolle nur, es erfordert keine körperliche Mühe, keine taktile Begegnung mit dem Papier – nur reduzierte Fingerarbeit auf der Oberfläche, aber kein Handwerk. Wird heutzutage alles Taktile zur Taktik? Die Zärtlichkeit zur Strategie?

Stimmgabel für ein verstimmtes „Ich“

Wenn mich die Trauer überschwemmt und ich nicht handeln kann, schaue ich mir die Fotos auf dem iPhone an. Pures, meditatives Schauen auf der Suche nach Ruhe und Trost und – vielleicht – nach einer Selbstbestimmung, als wäre das Anschauen der Bilder eine Stimmgabel für ein verstimmtes „Ich“, ein Weg zur Autonomie. In den letzten Wochen merkte ich, dass sich diese Gewohnheit in den fast obsessiven Glauben verwandelt hat, hier etwas Festes, Beständiges zu finden, als würde die digitale Fotografie mir beweisen, dass die Welt noch steht, dass meine Welt noch steht, als wäre das Gesehene und Geknipste eine Art Identität, als hätte ich mir damit die Welt, die ich liebe, angeeignet.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.

F.A.S. jetzt lesen

Dieses Foto ließ mich nicht los, obwohl ich weder kleine Kinder habe noch diesen Ort vermisse. In diesem Städtchen am Genfer See fand gerade ein Tulpenfestival statt. An der Promenade entlang waren Hunderte von Tulpen gepflanzt, in allen Farben und Formen: von dünnhäutigen weißen, von innen her leuchtenden Kelchen bis zu tief gefärbten gefüllten Blüten. Erschlagen von dieser Buntheit, ging ich zum See, um meine Augen „zu finden“. Da sah ich vor mir einen Vater mit seiner Tochter auf Augenhöhe und vor ihm noch einen Vater mit seinem Kind, weiter vorne noch ein Mann mit einem kleinen Kind an der Hand. Es war, als hätte jemand einen Stein ins Wasser geworfen, der über die Wasseroberfläche springt und Kreise erzeugt. Ich dachte, es könnte eine Allegorie für etwas sein, aber ich erkannte nicht, wofür.

Ich machte ein Foto und wandelte es noch am gleichen Tag um in Schwarz-Weiß.

Neben den bunten Blumen sah das Schwarz-Weiß-Foto aus wie ein Loch in der Zeit. Vor einigen Tagen bin ich in dieses Loch hineingefallen. Ich bemühte mich zu verstehen, warum gerade dieses Bild mich in Obhut genommen hat und mir das Recht gab, über die aktuellen Ereignisse zu schweigen. Ich versuchte, den Weg noch mal zu gehen, in Gedanken, und dabei ein Knäuel zu entwirren: der Weg dieses friedlichen Tages, von Vätern mit Kindern und mir, als heimliche Mutter dabei. Das Foto beherbergt die Anwesenheit meines Vaters und von mir, meinen Freunden, die gerade kleine Kinder haben. Es ist, als würde ich auch hier der Kindheit meiner eigenen Kinder nachlaufen, und dann sehe ich wieder diesen Vater mit dem Mädchen, denen kein Krieg zu drohen scheint.

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