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#Eine Gottheit gerät in Aufruhr

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Eine Gottheit gerät in Aufruhr

Postkoloniale Selbstbesinnung führt auch in Russland dazu, dass Schriftsteller sich für früher unterdrückte Kulturschichten begeistern. Eine hierzulande noch wenig bekannte Kultfigur für diese Strömung ist der Kasaner Lyriker und Prosaautor Denis Osokin, den die russisch-tatarisch-finnougrische Vielstimmigkeit seiner depressiven Heimatregion inspiriert, in der die heidnischen Bräuche und Geister verschwundener Ethnien postsowjetische Zivilisationsniederungen überwuchern wie Heilkräuter den zerbröckelnden Asphalt.

Kerstin Holm

Osokin sieht sich als Patriot seiner Stadt Kasan, wo er, wie er sagt, in sämtliche Zeiten blicken könne und in der er das „Zentrum für russische Folklore“ geleitet hat; seine besondere Liebe gilt den im Wolga-Gebiet indogenen Finnougren, deren Sprachen keine Worte für „Krieg“, „Abschied“ oder „Wollen“ besitzen, weshalb ihn diese Kulturen in ihrer wehrlosen Pflanzenhaftigkeit bezaubern.

Der philologisch beschlagene Osokin betreibt freilich keine ethnographische Rekonstruktion. Vielmehr findet er Vokabeln, Rituale, die Naturfrömmigkeit der Jersjanen, Mokscha oder Mari in der Jetztzeit und flicht sie poetisch in das moderne Leben ein. Darin fühlt er sich dem russischen Avantgardedichter Welemir Chlebnikow verwandt, der aus Wortetymologien Rückschlüsse zog auf grundsätzliche Energieströme. Mit Chlebnikow verbindet ihn auch das Selbstverständnis des Dichters als idealerweise mittelloser Wanderderwisch.

Erotische Urkräfte haben das Sagen

Osokin, dessen Texte mehrfach verfilmt wurden, versetzt in äußerlich traurige Alltagswelten, wo erotische Urkräfte umso nachdrücklicher regieren. Verdienstvollerweise hat jetzt der Berliner Ciconia ciconia Verlag eine Sammlung Prosatexte sowie einige Gedichte Osokins in kongenialer Übersetzung von Christiane Körner herausgebracht, nur leider ohne einführendes Vor- oder Nachwort, was bei diesem Autor angezeigt gewesen wäre. Die schön gestaltete Ausgabe reproduziert auch Osokins durchgehende Kleinschreibung und die auf das seiner Ansicht nach absolut Notwendige reduzierte Interpunktion, die Satzglieder vorzugsweise durch Bindestriche aneinanderreiht.

Gleich die erste Erzählung „Wetluga“, die die Kleinstadt im Landkreis Nischni Nowgorod, aber auch den gleichnamigen Fluss besingt, schildert eine Adventszeit in freiwilliger Selbst-isolation, wie sie für den Ausklang unseres Corona-Jahres ein Beispiel geben könnte. Der Ich-Held begrüßt den Dezember als eine Art privaten Ramadan, eine Zeit des Rückzugs, der Selbstbesinnung und des Fastens, in der er, sich weitgehend von Sauerkraut und Kräutertee ernährend, geradezu physisch spürt, wie er ein besserer Mensch wird. Ohne aus dem Haus zu gehen, schweift er umher, lässt sich vom zärtlichen Klang der Ortsnamen forttragen, singt Lieder in Sprachen, die er nicht kennt.

Der Text ist aber auch eine Hymne an die Silberweide (russisch: wetla), die als verzeihendes weibliches Naturprinzip das Wappen von Wetluga ziert. Und so mündet er in einer Liebesvereinigung. Das Paar besiegelt sie durch Opfergaben an den Wetluga-Flussgott, woraufhin dieser sich prompt durch ein Gegengeschenk revanchiert.

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