#Eine Stadt erwacht aus dem Corona-Albtraum
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„Eine Stadt erwacht aus dem Corona-Albtraum“
Jiegao sieht aus wie die Kulisse für einen dieser Apokalypse-Filme, in denen der Held durch eine menschenleere Stadt läuft. Auf den Bürgersteigen sprießt das Unkraut. Geschlossene Geschäfte reihen sich, Straße um Straße, aneinander. Vor ihren Eingängen sind die Rolltore heruntergelassen. Den Schlössern sieht man an, dass sie seit Monaten nicht geöffnet wurden. Manche Tore sind mit Papierstreifen versiegelt. Darauf steht in chinesischen Schriftzeichen „Grenzseuchenschutzüberwachungszone“.
Jiegao ist eine Freihandelszone im Süden Chinas an der Grenze zu Myanmar. Bis vor drei Jahren florierte hier der Handel mit Jade, Edelsteinen und Tropenholz. Viele Familien der Dai-Minderheit lebten wie in einem Niemandsland beiderseits der Grenze. Sie schickten ihre Kinder täglich von Myanmar nach China zur Schule. Die Pandemie hat dem ein Ende bereitet. Um das Virus draußen zu halten, errichtete China einen meterhohen Grenzzaun. Als auch der das Virus nicht stoppen konnte, wurde die Handels- zur Pufferzone erklärt. Mehr als 20.000 Bewohner wurden umgesiedelt.
Jiegao ist ein Außenbezirk der Stadt Ruili, die in China zu trauriger Berühmtheit gelangt ist. Keine andere Stadt des Landes stand während der Pandemie so häufig unter Lockdown. Rund ein Dutzend Mal wurden die Bewohner in ihren Häusern eingesperrt, insgesamt mehr als zweihundert Tage. Die Phasen dazwischen nutzten viele, um Ruili zu verlassen. Die Stadt verlor die Hälfte ihrer Einwohner.
Dann kam der 7. Dezember
Nirgendwo sonst wurde Xi Jinpings Null-Covid-Strategie so auf die Spitze getrieben wie in der beschaulichen Grenzstadt der Provinz Yunnan. Dann kam der 7. Dezember 2022. In ganz China wurden über Nacht alle Seuchenschutzmaßnahmen eingestellt. Eine riesige Corona-Welle schwappte über das Land. Inzwischen hat die Führung in Peking die Wiederbelebung der Wirtschaft zur Priorität erhoben. Ruili erwacht aber nur langsam aus dem Corona-Albtraum. So leicht lässt sich die Vergangenheit nicht abschütteln.
Einen Steinwurf vom Grenzzaun entfernt sitzt Familie Tan vor ihrem Haus und grillt Maiskolben. Sie gehörten im Juli 2021 zu den Ersten, die umgesiedelt wurden. Vor zwei Wochen sind sie zurückgekehrt. Achtzehn Monate waren sie vertrieben, ohne reguläres Einkommen. Die Behörden stellten ihnen Betten in einer umfunktionierten Schule in den Bergen zur Verfügung. Stattdessen mietete die Familie eine Wohnung in der Stadt. Einfach war das nicht. „Weil das Virus zuerst in Jiegao aufgetaucht ist, hatten viele Angst, an Leute von hier zu vermieten.“ Inzwischen hat in Ruili keiner mehr Angst vor dem Virus. Fast alle haben sich angesteckt. „Denguefieber ist schlimmer“, sagt Herr Tan. Seine Mutter habe er vorsorglich in das Zweithaus in Muse geschickt. So heißt Ruilis Schwesterstadt gleich hinter dem Zaun.
Anders als in anderen Teilen Chinas hört man hier wenig über die Schattenseite der abrupten Kehrtwende in der Corona-Politik. Der Epidemiologe Benjamin Cowling von der Hong Kong University spricht von zwei „unerwünschten Rekorden“ Chinas. Nirgendwo sonst auf der Welt sei die Zahl der Corona-Toten so schnell von einigen wenigen auf mehr als eine Million angestiegen. „Innerhalb eines Monats.“ Auch habe sich das Virus nirgendwo sonst so schnell von null auf 80 Prozent der Bevölkerung übertragen. China sei das erste Land, das seine erste Corona-Welle durchstand, ohne zu versuchen, die Kurve der Hospitalisierung abzuflachen, sagt Cowling am Donnerstag vor ausländischen Journalisten in Peking. Er spricht von „verpassten Gelegenheiten, Leben zu retten“. Etwa durch eine vorausschauende Anschaffung antiviraler Medikamente und durch Maßnahmen, um eine Überfüllung von Krankenhäusern zu vermeiden. In Hongkong habe eine solche Überfüllung zeitweise das Todesrisiko um den Faktor drei erhöht. Für das übrige China liegen dafür keine Daten vor. Ebenso wenig wie belastbare Todeszahlen.
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