Wissenschaft

#Enteignung durch Aneignung? – Gesundheits-Check

Am 2. Mai 2023 haben die amerikanische Künstlerin Molly Crabapple und das Center for Artistic Inquiry and Reporting einen offenen Brief geschrieben, der darauf aufmerksam macht, dass die Tech-Konzerne mit ihren KI-Anwendungen gerade einen ebenso heimlichen wie gigantischen Raubzug durchführen: Sie eigenen sich in Form des Trainingsmaterials für die KI die geistigen Produkte der gesamten Menschheit an. Texte, Bilder, Musik – die KI saugt es auf, und eignet es sich an:

„AI-art generators are trained on enormous datasets, containing millions upon millions of copyrighted images, harvested without their creator’s knowledge, let alone compensation or consent. This is effectively the greatest art heist in history. Perpetrated by respectable-seeming corporate entities backed by Silicon Valley venture capital. It’s daylight robbery.“

Manche der Anwendungen, z.B. das Sprachprogramm Chat-GPT oder das Malprogramm Dall-E-2, stellen uns die Tech-Konzerne zunächst kostenfrei zur Verfügung, zumindest die Basisversionen. Wir spielen damit, oder probieren sie aus, wir helfen bei der Weiterentwicklung. Niemand weiß, ob aus den Werbegeschenken später Waren werden, die bezahlt werden müssen.

Aber umsonst ist im Kapitalismus nichts. „There’s no such thing as a free lunch“ war der Titel eines Buches von Milton Friedman. Ihm ging es darum zu zeigen, dass es staatliche Sozialleistungen nicht umsonst gibt. Die Freunde des möglichst ungehinderten Marktes in Deutschland werden bis heute nicht müde zu betonen, dass alles, was verteilt wird, erst erwirtschaftet werden muss. Dabei wird das, was als Wertschöpfung gilt und was als Konsumption, stets recht eng entlang des Privateigentums an den Produktionsmitteln definiert. Autos herzustellen, ist Wertschöpfung. Kinder aufziehen und zu beschulen oder alte Menschen zu pflegen, kann man sich dagegen nur leisten, wenn das Geld dafür vorher „erwirtschaftet“ wurde. Es sei denn, man kann Erziehung und Pflege vermarktwirtschaftlichen.

Aber das ist eine andere Baustelle. Für die Tech-Konzerne waren jedenfalls die geistigen Produkte der Menschheit ein „free lunch“. Das Kapital führt immer wieder Raubzüge durch und eignet sich etwas an, was ihm nicht gehört – Sklavenarbeit, Rohstoffe, die Natur als Deponie. Die Aneignung des Mehrwerts der Ware Arbeit ist nur ein Teil der kapitalistischen Produktionsweise. Die amerikanische Philosophin Nancy Fraser beschreibt den Zusammenhang von nackter Enteignung (Expropriation) und vertraglich geregelter Ausbeutung (Exploitation) in ihrem aktuellen Buch „Der Allesfresser“ – mehr essayistisch als analytisch, aber gut nachvollziehbar.

Molly Crabapple sieht einen solchen Ent- und Aneignungsprozess nun bei der Verwendung von Texten und Kunstwerken als Trainingsmaterial für die KI. Es ist kein unmittelbar sichtbarer Raub wie bei einem Bot-gesteuerten Plagiat. Das, was sich die Tech-Konzerne aneignen, kommt verwandelt wieder zu uns zurück. Als Text, Bild oder Musik auf der Basis des Trainingsmaterials, vom Fraserschen Allesfresser verdaut sozusagen. Von einem “maskierten Raub“ spricht Naomi Klein, eine der Unterzeichner:innen des offenen Briefs, in der Juni-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik und beschreibt, wie uns die Konzerne ihren Goldrausch wieder einmal nach einer uralten Masche schmackhaft machen: indem sie die KI als Lösung aller Menschheitsprobleme in Aussicht stellen, vom Klimawandel bis zur Armut. Als als ob nicht längst klar sei, was dazu nötig ist (ebda. S 56):

„Gemäß dieser Logik liegt das Unvermögen, große Probleme wie den Klimawandel zu „lösen“, an einem Mangel an Klugheit. Vergessen wir einfach, dass wirklich schlaue Menschen mit jeder Menge Doktortiteln und Nobelpreisen unseren Regierungen seit Jahrzehnten erzählen, was getan werden müsste, um aus diesem Schlamassel zu kommen: unsere Emissionen senken, Kohlenstoff im Boden lassen, die Überkonsumtion der Reichen und die Unterkonsumtion der Armen angehen (…). Wir brauchen auch keine Maschinen, die das Denken für uns erledigen. Der Grund für diese Ignoranz ist: Wenn wir tun würden, was wir angesichts der Klimakrise tun müssten, wären Billionen von Dollar an Vermögenswerten, die in fossile Energien investiert worden sind, in den Sand gesetzt. Zugleich würden wir das konsumbasierte Wachstumsmodell im Zentrum unserer verwobenen Wirtschaft infrage stellen.“

In der Tat, wer meint, er müsse sich erst von der KI sagen lassen, dass es so nicht weitergehen kann, der hängt entweder einem säkularisierten Glauben an, dass es für Veränderungen einen Segen von oben braucht, oder, wahrscheinlicher, er ist einfach den immer wiederkehrenden Versprechungen aller Innovationsindustrien zum Opfer gefallen.

Der Prozess der Enteignung und Aneignung, den die Briefeschreiber:innen anprangern, ist nicht auf die KI und auf urheberrechtlich geschützte Kunst beschränkt, er scheint vielen unregulierten, marktgetriebenen Digitalisierungsentwicklungen inhärent. Die Gesundheitsdaten aus der Versorgung sollen natürlich für die Forschung erschlossen werden. Aber wem gehören sie und wer soll sie bekommen? Erklärtermaßen will Gesundheitsminister Lauterbach durch einen besseren Zugang zu Daten die Pharmaindustrie „im Land halten“, und Wirtschaftsminister Robert Habeck will, wie Jens Spahn, die „Standards im Datenschutz überdenken, um bessere Rahmenbedingungen für die Gesundheitswirtschaft zu schaffen“. So sehen die Prioritäten der Politik aus – Gesundheitspolitik als Wirtschaftsförderungspolitik. Ein paar Daten-Brosamen werden sicher auch für die universitäre Forschung abfallen, und wenn die Universitäten mit den Daten über industriefinanzierte Drittmittel forschen, wird man damit auch „An der Goldgrube“ kein Problem haben.

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Disclaimer: Nein, ich will nicht in die Steinzeit zurück, ich will Deutschland nicht deindustrialisieren, ich bin nicht für eine DDR-Wirtschaft, ich bin für die Digitalisierung im Gesundheitsbereich und auch für eine bessere Nutzung von Gesundheitsdaten durch die Forschung – zugunsten der Menschen.

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