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#Flämmchen im Weltwinter

Flämmchen im Weltwinter

In David Leans Schneeschnulze „Doktor Schiwago“ (1965) hat Julie Christie einen doppelten ersten Auftritt: einmal als Foto in einem Gedichtband, den sich die Kamera aufmerksam für später einprägt, und dann in der Straßenbahn, Mund und Nase von schwarzem Flausch verdeckt, den finsteren Hut tief in die Stirn gezogen: nichts als Augen, arglos blau, mit einer raffinierten Lüge von angeblichem Grün drin. Später wird ein Idiot versuchen, der Schauspielerin das Antlitz so zu verschleiern, dass man wieder nur die Augen sieht – allein Schönheit soll von der Frau übrig bleiben, die so viel mehr ist als schön. Es klappt nicht, sie ist ihm überlegen, wie den Zarenspitzeln, die sie bequatscht, um einen Revolutionär aus der Patsche zu fischen, woraufhin sie das Wort „Bolshevik“ zischt, als müsste sie gleich über die ganze Weltgeschichte loswiehern.

Dietmar Dath

Julie Christies Spielstil lebt von einer geradezu unheimlichen Gleichgültigkeit gegen die eigene Attraktivität. Die schwebende Beiläufigkeit, mit der sie per Wort und Blick noch den winzigsten Verästelungen des Handlungsgeflechts ihrer Filme kleine Flammenzungen aufsetzt, damit man sich im Geschehen emotional orientieren kann, hat große Regie immer wieder dazu verführt, die glitzernde Individualität der Diva direkt mit Massen- und Öffentlichkeitsinszenierungen zu konfrontieren.

Schon in John Schlesingers „Darling“ (1965) sieht man sie, außer in Bewegung, auch auf Plakaten und Zeitschriftentitelseiten, und Leans Idee für „Doktor Schiwago“, sie in ein öffentliches Verkehrsmittel zu setzen, damit sie in der Menge besonders auffällt, wird schon ein Jahr später von François Truffaut in dessen Ray-Bradbury-Verfilmung „Fahrenheit 451“ wiederholt: Diesmal steht Christie mit kurzgehacktem Haar zwischen Analphabeten herum, bis sie Herrn Oskar Werner bemerkt, der als hauptberuflicher Bücherverbrenner auf dem Weg nach Hause irgendwelchen Träumen nachsinnt. Der Film bebildert die naive Schreckensvision einer Welt, in der Bücher vernichtet werden; Zweck der Textauslöschung ist, die beiden Haupteigenschaften wichtiger Texte aus dem Leben der Unterdrückten zu verjagen: Form und Inhalt (denn dann bleibt nur Dienst). Der Romanautor Bradbury und der Filmemacher Truffaut konnten sich halt noch nicht vorstellen, dass man dieses Ziel statt durch Schriftlöschung auch per Proliferation von form- und inhaltsfreien Texten in Druck und Netz erreichen kann, wie’s heute passiert, aber in Oskar Werners wässrigen Augen graut bereits diese Sinndämmerung.

Das traurige Lächeln

Julie Christie jedoch erkennt sich, als Werner so trübe dasteht, irgendwie in etwas wieder, wonach er sich zu sehnen scheint, und signalisiert ihm auf hinreißend ungeschickte Art, skandalös ungeschützt, ihr Interesse daran, sich auf jeden denkbaren Gegentraum einzulassen.

Julie Christie mit Donald Sutherland 1973 in „Wenn die Gondeln Trauer tragen“


Julie Christie mit Donald Sutherland 1973 in „Wenn die Gondeln Trauer tragen“
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Bild: Picture-Alliance

So eindrucksvoll sie auftritt, so unfehlbar tritt sie ab: Das traurige Lächeln, mit dem sie sich am Ende von Nicolas Roegs „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ (1973) aus diesem sehr großen Schauermumpitz verabschiedet, lässt Tiefkühlpizza frösteln, und wie sie im Finale von „Darling“ auf der Flugzeugtreppe steht, um aus ihrem blassgeweinten Glamourgesicht auf die sensationelle Achterbahnfahrt zurückzuschauen, die sie hier hinter sich hat, das nimmt der Regie das letzte Wort weg und nennt’s Schweigen.

Man glaubt’s ihr sofort

Für die irrwitzigen Temperaturwechsel, die sie in diesem phantastischen Film nicht bloß überlebt, sondern immer bis kurz vorm Zersplittern der Rolle ausreizt, gab es zu Recht einen Hauptdarstellerinnen-Oscar. Während aber Jurys, die Besetzungsinstanzen und Fans den Rang der Dame recht bald begriffen hatten, tun sich Kritik und Kinotheorie bis heute schwer, das Sondertalent der 1941 im seinerzeit kolonialbritisch-indischen Assam geborenen Künstlerin zu erfassen und zu beschreiben (nicht einmal beim Geburtsjahr ist die Wissenschaft ganz mit sich einig; die Encyclopaedia Britannica und eine Quelle beim British Film Institute haben das hier verwendete Datum, ihnen wollen wir vertrauen). Von „kühl“ bis „bewegend“ reichten die vorgefertigten Etiketten, also nicht sehr weit; der Analyse fällt es eben oft schwer, Intensität und Intellektualität zusammenzudenken, die beiden Hauptkraftquellen für Christies Darstellungskunst – Al Pacino kam der Sache wohl sehr nahe, als er über sie sagte, Christie sei „die poetischste von allen Schauspielerinnen“, denn Poesie vermittelt Herz mit Hirn ja gern im gemeinsamen Höhepunkt.

Die älteste Illusion, die Schauspielerei verkauft, ist das Empfinden, ein Fachtrick sei Eigenschaft einer lebenden Seele. Julie Christies Haupterrungenschaft, flutendes Licht von innen, das so tut, als würde es nicht merken, wie es blitzt, hat Schule gemacht; einige Erbinnen zu Lebzeiten heißen heute Mackenzie Davis, Jennifer Lawrence oder Michelle Williams. Dass Christie solche Schülerinnen hat, heißt freilich nicht, dass die Lehrerin mit der Arbeit schon fertig wäre – wer den Mund so angewidert verziehen kann wie sie als ehemalige militante linke Aktivistin und jetzige Marihuanahändlerin in Robert Redfords Achtundsechziger-Apologie „Die Akte Grant“ (2012), wenn Sam Elliott sie darauf hinweist, die Zeiten würden sich halt ändern, die Sechziger seien vorbei, ist noch lange nicht durch. Zumal ihr sogar der Schiwago-Schnee die Treue gehalten hat: Dicke feuchte Flocken fallen ihr zu Füßen, wenn sie als hintergründigste Großmutter, die je eine Version des Rotkäppchen-Märchens geschmückt hat, in Catherine Hardwickes „Red Riding Hood: Unter dem Wolfsmond“ (2011) ihren feinen Atemnebel ausstößt. „Wir haben alle unsere Geheimnisse“, teilt sie kurz vor dem Griff nach dem berühmten Mäntelchen für die Heldin mit. Man glaubt’s ihr sofort, wie überhaupt alles. An diesem Mittwoch wird Julie Christie achtzig Jahre alt.

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