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#“Für ein Gespräch über Rassismus muss ich nicht Pippi Langstrumpf vorlesen“

„“Für ein Gespräch über Rassismus muss ich nicht Pippi Langstrumpf vorlesen““



Die Kulturwissenschaftlerin Olaolu Fajembola setzt sich für einen rassismuskritischen Umgang mit Kinderbüchern ein. Dabei nimmt sie auch Klassiker unter die Lupe.

Frau Fajembola, zusammen mit Tebogo Ninimindé-Dundadengar haben Sie 2018 einen Online-Shop für diverses Spielzeug und Vielfalt abbildende Kinderbücher gegründet. Gab es dafür einen Anlass?

Olaolu Fajembola: Die Perspektive, die wir als Mütter hatten. Meine Tochter wächst zweisprachig auf und ich kam jedes Mal von Besuchen bei der Verwandtschaft in London zurück mit Koffern voller englischsprachiger Bücher, weil es die bei uns nicht gab. Und nicht nur das: Ich fand dort Bücher, die eher unsere Realität widerspiegelten, das Leben in einer diversen Gesellschaft, Kitas, in denen die Kinder unterschiedlichste kulturelle Perspektiven haben, während ich in den Buchhandlungen und Bibliotheken hier auf eine Welt stieß, die nicht die unsere ist und auch immer in denselben Storys erzählt wird.

Sie selbst sind in den 1980er Jahren in Nürtingen bei Stuttgart als nigerianisch-deutsches Kind aufgewachsen. Welche Bücher haben Sie als Kind gelesen?

Fajembola: Die stehen heute noch bei mir im Regal: viel von Erich Kästner, „Das doppelte Lottchen“, „Emil und die Detektive“, Michael Endes „Der Wunschpunsch“ und „Momo“, „Ronja Räubertochter“ von Astrid Lindgren, also die Kinderbuchklassiker. Dazu habe ich die ganze Bücherei hoch und runter gelesen, alles was es gab, einschließlich „Hanni und Nanni“. 

Haben Sie in diesen Büchern als Schwarzes Kind etwas vermisst?

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Fajembola: Nein, überhaupt nicht. Das ist die Crux bei dieser Sache: Die Abwesenheit ist eben auch schon eine Form von Rassismus. Wir können jeden Tag Kartoffeln essen und werden zufrieden sein, weil wir nichts anderes kennen. Aber heute frage ich mich, in welche Rollen hätte ich mich hineindenken können, wenn ich andere Bücher vorgefunden hätte. Bücher und ihre Protagonisten geben uns Leitbilder, mit denen wir uns identifizieren und an denen wir uns in unseren Lebensentwürfen orientieren können, die fehlten in diesen Büchern für Kinder wie mich. Ich erinnere mich auch, dass ich den dritten Teil von „Pippi Langstrumpf“ nicht lesen wollte und dass ich die Zeichnungen in „Jim Knopf“ unangenehm fand. Als Schwarzes Kind ist dir einfach bewusst, welche Begriffe in einem Buch stehen und du kannst sie nicht einfach überlesen. Das macht etwas mit dir und es beeinträchtigt dein Lesevergnügen. 

Die Kulturwissenschaftlerin Olaolo Fajembola engagiert sich für eine diverse Kinderliteratur.

Foto: Cristina S. Salgar

Warum ist es so wichtig, dass Kinder in ihren unterschiedlichen Realitäten (Vor-)Bilder in Büchern finden, in denen sie sich spiegeln können?

Fajembola: Bücher sind ein Kulturgut. Sie haben eine Orientierungsfunktion für Kinder. Sie zeigen ihnen, wie die Welt funktionieren kann in all ihren unterschiedlichen Dimensionen, deshalb sollten sie nicht von Menschen erzählen, deren Anderssein das Hauptthema ist oder die dazu benutzt werden, einem weißen Hauptcharakter eine bestimmte Rolle zu geben. Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Adichie spricht davon, dass wir diesen Single Storys, die eine Person auf eine einzige Geschichte festlegen, ein breites Potpourri an Erfahrungen und Erzählungen entgegensetzen müssen, und darauf sollten wir auch bei Kinderbüchern achten.

Geht es Ihnen dabei nur um die Perspektive und das Leseerlebnis von Schwarzen Kindern, oder generell darum, wie Kinder die Welt durch Bücher vermittelt bekommen?

Fajembola: Unser Motor und Zugang war unsere eigene Unsichtbarkeit, aber uns ging es auch darum, dass die Lebensrealität vieler Kinder in Deutschland in Büchern zu wenig vorkam, dass also z.B. kaum Wissen über Ramadan besteht. Ebenso stellten wir fest, dass Jungs in Büchern ein reichhaltiges Menü an Themen serviert bekommen, während die Mädchen in den speziellen Mädchenbüchern Fastfood mit den immer gleichen Themen wie Tieren und Prinzessinnen vorgesetzt bekommen. Damit werden ja auch versteckte Botschaften vermittelt.

Sie haben gerade die Prinzessinnen angesprochen, die hatten natürlich immer weiße Haut und blonde Locken. Was macht das mit einem Mädchen mit dunkler Hautfarbe?

Fajembola: Menschen, die sich niemals abgebildet sehen, können auch keine Selbstbilder entwickeln und sich als Subjekt einer Geschichte sehen. Ihre Fantasiewelten schließen also ihre eigene Person nicht ein. Vermittelt wird damit aber auch ein rassistischer Duktus jahrhundertealter Schönheitsideale. Das ist toxisch für Kinder, die dem nicht entsprechen. Und natürlich erleben wir bei diesem Motiv wieder die fehlende Möglichkeit des Spiegelns. Alles, was ich sehe, ist nicht ich. 

Welche Ansprüche stellen Sie also an ein gelungenes Kinderbuch?

Fajembola: Natürlich die literarische Qualität. Wichtig ist auch, dass Diversität nicht explizit der Inhalt ist, sondern dass sie als Normalität abgebildet wird. Auch die Perspektive, aus der erzählt wird, sollte eine Rolle spielen. Ein Buch zum Ramadan sollte nicht aus der Perspektive eines nichtmuslimischen Kindes erzählt werden, weil wir dann einen viel besseren Einblick bekommen, was Ramadan für diese Kinder bedeutet, die Aufregung, die Geschenke, die Süßigkeiten, all der Besuch, den es zu dieser Zeit gibt. Oder bei behinderten Protagonisten ist es wichtig, ob man sich auch positiv mit ihnen identifizieren kann. Ein Kind, das im Rollstuhl sitzt, möchte sicher keine Geschichte lesen, in der es immer bemitleidet wird oder aufgezählt wird, was es alles nicht kann. 

Anderssein sollte also nicht problematisiert, sondern als gegeben betrachtet werden?

Fajembola: Genau. Denn das ist nicht nur für die Kinder wichtig, die betroffen sind, sondern auch für alle anderen, um eben nicht auf diese Single Storys hereinzufallen, die einen Charakter nur einseitig, in diesem Fall eben problematisch oder mit Defiziten behaftet, kennenzulernen. Sie sollen sehen können, der oder die hat das Gleiche erlebt wie ich, um Empathie zu lernen.

Lassen Sie uns noch einmal zu den Klassikern zurückkommen, daran entzünden sich meist die Debatten. Wie soll man mit diesen Büchern umgehen?

Fajembola: Ich bin überhaupt nicht für Verbote, aber ich will mit meinem Kind keine Bücher lesen, in denen rassistische Begriffe vorkommen. Natürlich werden sie mit diesen Begriffen irgendwann konfrontiert werden, aber ich muss nicht „Pippi Langstrumpf“ mit meiner Tochter lesen, um ein Gespräch über Rassismus zu führen, da nehme ich lieber ein Sachbuch, das davon handelt. Wichtig ist, dass wir Kinder befähigen, die Kompetenz zu entwickeln, Bücher kritisch zu lesen und im Kontext ihrer Entstehungszeit einzuordnen. Das muss man ja auch bei Erich Kästners Büchern, in denen viele veraltete Begriffe vorkommen, mit denen Kinder heute nichts mehr anfangen können. Diese Kompetenz gibt es noch zu wenig und da sehe ich einen großen Aufgabenbereich für Schulen und Bibliotheken. 

Wie beurteilen Sie das aktuelle Angebot an Kinderbüchern? Haben die Verlage noch Nachholbedarf, was vielfältige Kinderbücher betrifft?

Fajembola: Vor zwei Jahren hätte ich auf die Frage gesagt, es gibt einen positiven Trend, heute sage ich, es sind erfreuliche Entwicklungen absehbar und die Verlage verstehen, dass sie Diversität nicht nur ab und zu Raum geben müssen. Gerade im Bilderbuch sehen wir, dass sich die Illustrationen diversifizieren. Aber sobald sich die Bücher an eine Zielgruppe wenden, die mehr textorientiert ist, nimmt die Diversität stark ab. Das ist verbunden mit der Frage, wer die Bücher schreibt. In Deutschland ist das zumeist eine bildungsbürgerliche weiße Gruppe, die natürlich aus ihrer eigenen Perspektive heraus schreibt. Damit können die Autoren und Autorinnen zwar sehr viel abbilden, aber sie können keine Geschichte eines muslimischen Mädchens erzählen, das zur Superheldin wird, wenn sie überhaupt keine Referenzpunkte haben. Da zeigt sich eben doch, dass sich zwar nicht die Bandbreite von Themen verengt, aber die Perspektive. Der Markt ist also in Bewegung, aber da ist noch viel Luft nach oben.

Zur Person: Olaolu Fajembola ist Kulturwissenschaftlerin und wurde 1980 geboren. Sie arbeitete für die Berlinale und gründete zusammen mit Tebogo Nimindé-Dundadengar den Onlineshop Tebalou, der Spielwaren für Kinder in einer diversen Gesellschaft anbietet. Gemeinsam beraten sie Pädagoginnen und Pädagogen zu Sensibilität für Diversität und Rassismuskritik. 2021 erschien ihr Buch „Gib mir mal die Hautfarbe – Mit Kindern über Rassismus sprechen“ (Beltz & Gelberg, 17 Euro).

Buchtipps von Olaolu Fajembola:

  • „Die besten Weltuntergänge“ von Andrea Paluch und Annabelle von Sperber Ein tolles Buch um über Klima, Gerechtigkeit (auch globale Gerechtigkeit) und Utopien zu sprechen. (Klett Kinderbuch, 16 Euro – ab 8)
  • Die Serie „Planet Omar“ von Zanib Mian: Gerade Erstlesende finden den Comic-Stil und den Humor der Reihe wundervoll. Und Omar ist ein liebenswerter Hauptcharakter, mit dem sich viele Kinder identifizieren können. (Loewe, 9,95 Euro – ab 8)
  • „Wenn meine Haare sprechen könnten“ von Dayan Kodua:: Ein wichtiges Buch, dass Kindern zeigt, ihre eigenen Gefühle und Grenzen zu kennen und zu ziehen. (Gratitude, 17 Euro – ab 4)

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