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Heiliger Zorn

Die Polen seien ihrem Wesen nach eine „revolutionäre Nation“, schrieb vor Jahren, als ganz Europa in ruhigeren Wassern segelte, der Warschauer Politologe Piotr Buras. Recht hatte er. Deutschlands großer östlicher Nachbar macht diesem Ruf gerade wieder alle Ehre. Eine Protestbewegung hat seit Ende Oktober mit Demonstrationen und Verkehrsblockaden nach Polizeiangaben vierhundert Städte und Ortschaften erfasst. Der Auslöser war ein Spruch des mehrheitlich von regierungsnahen Richtern besetzten Verfassungsgerichts. Es kippte den „Abtreibungskompromiss“ von 1993.

Gerhard Gnauck

Gerhard Gnauck

Politischer Korrespondent für Polen, die Ukraine, Estland, Lettland und Litauen mit Sitz in Warschau.

Diese gesetzliche Regelung verbot zwar die Abtreibung, sah jedoch drei Ausnahmen vor: bei Vergewaltigung, bei Gefahr für das Leben der Mutter und bei schweren Missbildungen des Embryos. Jetzt hat das Gericht auch noch – unter dem Beifall der Regierungspartei PiS und der katholischen Kirche – die Ausnahmeregel für Missbildungen für verfassungswidrig erklärt. Darauf haben sich die größten Proteste gegen eine Regierung seit 1989 erhoben. Umfragen zufolge hat die nationalkonservative PiS („Recht und Gerechtigkeit“) über Nacht ein Viertel ihrer Anhänger verloren.

Noch ungewöhnlicher war, dass im zu fast neunzig Prozent katholischen Polen zu Beginn der Proteste auch dutzendfach Kirchen beschmiert und Gottesdienste gestört wurden – junge Demonstrantinnen ließen sich mit Plakaten vor dem Altar nieder. Tage später schrieben siebenundzwanzig Priester, darunter mehrere Dominikaner, einen Appell an die Nation und unausgesprochen vor allem an die PiS: „Im Namen des Evangeliums sollten wir sofort damit aufhören, die Religion für politische Ziele zu benutzen, und die Überzeugung aufgeben, dass rechtliche Lösungen die Empfindlichkeit des Gewissens dauerhaft verändern können, was doch unser Anliegen ist, wenn wir das Evangelium verkünden.“

Wird jetzt dennoch Blut fließen?

Auch Schwester Małgorzata Chmielewska, die bekannteste katholische Kirchenfrau, stimmte ein in den Chor der Kritiker, dem sich auch Politiker des PiS-Lagers angeschlossen haben. Sie sei gegen Abtreibung, aber „zum Heroismus kann man niemanden zwingen“, sagte die Schwester. Gemeint ist mit dieser inzwischen gängigen Wendung: Der Gesetzgeber sollte niemanden dazu verpflichten, ein als schwerbehindert diagnostiziertes Kind auszutragen. Chmielewska leitet zehn Obdachlosenheime, sie hat auch selbst einen behinderten Jungen adoptiert.

PiS-Chef Jarosław Kaczyński soll, so die liberale „Gazeta Wyborcza“, darauf gedrungen haben, dass die Polizei gegen die vielen unangemeldeten Proteste hart vorgeht; Polens Polizeichef Jarosław Szymczyk hat das offenbar zunächst verweigert. Die Protestbewegung, von ihren Koordinatorinnen „Revolution“ genannt, hat auf der Straße sofort Gegenkräfte mobilisiert. Am heutigen Mittwoch feiert Polen den Jahrestag der 1918 errungenen Unabhängigkeit. Das ist alljährlich der Anlass für den größten landesweiten Aufmarsch der politischen Rechten. Zwar haben die Behörden den Umzug diesmal wegen der Pandemie untersagt, doch soll er jetzt als Autokorso stattfinden. Sein Cheforganisator hat nach den Angriffen auf Kirchen auch mit der Bildung einer „nationalen“ Bürgerwehr begonnen. Als Brandverstärker warf er in die Debatte, die „deutsche Antifa“ sei eingereist und stehe hinter manchen Angriffen auf Kirchen. Polens Behörden sehen dafür allerdings keine Anzeichen.

Nicht zum Heroismus zwingen: Das ist auch das Leitmotiv des 2012 komponierten Liedes „Sorry, Polen“ der Rocksängerin Maria Peszek. Darin hofft die Sängerin, Polen werde sie nicht wie so viele Vorfahren dazu zwingen, im Kampf für Freiheit und Vaterland ihr Blut zu opfern. Jetzt ertönt das Lied auf den abendlichen Protestmärschen gegen das Abtreibungsurteil. Peszek spürt, sagte sie jetzt, einen „heiligen Zorn“ unter den kirchen- und regierungskritischen Demonstranten. Im massiven Einsatz einer vulgären, aggressiven Sprache gegen die Regierungspartei sieht sie keine Tragödie: „Was sind diese Worte gegen die jahrhundertelange Verfolgung der Frauen?“ Sie selbst habe sich oft zurückgesetzt gefühlt, „weil ich keine Kinder hatte, weil meine Gebärmutter leer war“. Dass der Zorn der Frauen sich jetzt entlade, habe die Wirkung einer Katharsis.

Wird jetzt dennoch Blut fließen? Der oberschlesische Gymnasiast Karol Krupiak warnt in einem Rapsong, der binnen Tagen zur Hymne der Bewegung geworden ist: „ihr setzt gas ein, / dann legen wir eine bombe / mit einem schnellen zug / erklären wir euch den krieg.“ Zwar hat die Polizei Tränengas bisher vor allem zur Abwehr rechter Gegendemonstranten eingesetzt. Aber die Angst, dass die Eskalationsspirale unkontrollierbar wird, ist groß und berechtigt.

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