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#Holen wir uns die Welt zurück!

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Holen wir uns die Welt zurück!

Achthundert Seiten lang kroch der Philosoph Hans Blumenberg 1989 durch „Höhlenausgänge“ der Geistesgeschichte, eine virtuose Improvisation über Platons berühmtes Gleichnis, nach dem der philosophisch noch nicht befreite Mensch in einer Art antikem Kino sitzt und das Schattenspiel für die ganze Wahrheit hält. Für Blumenberg war die Höhle aber auch ein Schutzraum, waren die Mythen und Geschichten ein Versuch des Mängelwesens Mensch, sich die Wirklichkeit anzueignen.

Auf eine Situation aber kam auch der große Mythologe nicht: Was passierte wohl, würde in diesem Kino ein Streifen gezeigt, der das Höhlengleichnis selbst ad absurdum führte – Menschen säßen darin unter der Erde und klammerten sich an ihre Erinnerungen, weil sie wüssten, dass draußen der wilde Wahnsinn zur Wirklichkeit geworden wäre: eine Welt voller menschenfressender Horrorkröten –, und der trotzdem den Aufstieg ans Licht glorifizierte? Würde in einer solchen Rückkopplungsschleife nicht jeder Wahrheitsglaube endgültig zu einem postmodernen Fiepen? Ja, vermutlich.

Doch Shawn Levy (Produktion), Brian Duffield (Buch) und Michael Matthews (Regie), drei gestandene Romantiker, pfeifen auf die Postmoderne und haben eine ganz andere Botschaft, die wir nun freilich nicht, wie eigentlich geplant, in popcornduftigen Gemeinschaftshöhlen des wohligen Massenbetrugs rezipieren können, sondern – dank Netflix – quasiquarantänisiert auf der durchgesessenen Couch: Worum es der ollen Menschheit, die hier von gigantischen Kakerlaken (man darf ersetzen: Viren) bereits um 95 Prozent reduziert worden ist, in Wahrheit geht, so die Botschaft, das ist mitnichten die Liebe zur Wahrheit (das war nur eine schräge Denker-Idee), sondern – Hallo, Sappho! – die Liebe an sich, die errötende „Das war der beste Sommer meines Lebens“- oder auch die verschwitzte „Was treiben wir jetzt auf dem Rücksitz“-Liebe. Omnia vincit amor und ganz bestimmt Kakerlaken.

„Subterranean Homesick Blues“

Das ist wenig originell, aber immer wieder rührend, vor allem, wenn es mit so warmherzigem Humor erzählt und mit so viel Charme vom immer noch beneidenswert jungen Dylan O’Brian gespielt wird. Joel, der sensible und zunächst alles andere als heroische Protagonist, hat einen Sommer lang von den Beeren der Liebe gekostet, wurde aber just auf dem erwähnten Rücksitz vom Angriff der Mutanten überrascht (deren Existenz die Menschheit übrigens selbst zu verantworten hat, Details führten zu weit). Seither haust er mit einigen jungen Menschen in einer Bunker-Wohngemeinschaft, in der Joel der einzige Single ist. Pausenlos verzehrt er sich nach seinem Sommermädchen, das er in den Evakuierungswirren verlor: eine eigene Form von „Subterranean Homesick Blues“. Jetzt hat er Aimee (Jessica Henwick, auch sie erste Riege) per Retro-Funk in einer anderen „Kolonie“ aufgespürt.

Nach siebenjährigem Lockdown mit härtester Ausgangssperre macht sich Joel also auf in die von Krabbelvieh unserer Albträume bevölkerte, aber immer noch zum Religiöswerden sonnige Oberwelt, in der bis dato nur die fittesten „Survivor“ Jagd auf Eingedostes machten. Ein Drachentöter, der sich aus Minne auf Aventiure begibt: Diese Handlung trägt durch alle Zeiten. Auf Joels dystopischem Hundertvierzig-Kilometer-Marsch, der ihm neben ritterlichen Kämpfen mit Sandfressern viel Selbstvertrauen und neue Freunde einbringt, darunter einen Hund, durfte sich die Spezialeffekte-Abteilung austoben. Und das phantastische Schnecken-Kröten-Würmer-Schalentier-Getümmel ist sicher ein Hauptgrund, sich diesen Familienfilm aus der Mythenschmiede Paramount Pictures anzusehen. Dank der VFX-Programmierkünste von Mill Film befindet sich die leichtverdauliche Mischung aus „Zombieland“, „The Revenant“ und „Der Volltreffer“ aktuell gar im Rennen um den Oscar für beste visuelle Effekte. Diese irre Krabbe soll ihnen erst einmal jemand nachmachen.

Der Referenzrahmen sind emotional gelungene Initiationsfilme der achtziger Jahre. Wenn Joel eine pottwalgroße Killermade in letzter Sekunde in die Luft sprengt (ein Jungstraum!) und danach ausruft „Ich fühle mich wie Tom Cruise“, dann riecht das, ja, nach „Teen Spirit“. Und ein Himmel voller leuchtender Flugquallen, während der gute alte (fast schon antike) Ben E. King unverdrossen vom Zusammenhalten der Liebenden singt, das ist ein ikonischer Moment von jugendzimmerpoetischer Kraft. Und natürlich ist es zugleich eine Hommage, zumal wenig später die berühmte Blutegelszene aus Rob Reiners Coming-of-Age-Thriller „Stand by Me“ (1986) ganz direkt zitiert wird.

Im mehrstufig ausgespielten Finale muss sich der zuvor vom inneren Licht der Sehnsucht geblendete Held dann doch noch einer harten Wahrheit stellen (Amor wartet nicht), was ihm und uns aber mit einer genugtuend blutig inszenierten Nebenbuhler-Handlung rund um einen klischeeknusprigen Navy-Captain (Dan Ewing) versüßt wird. Und zum Neuweltphilosophen avanciert Joel auch noch, sogar um einiges erfolgreicher als jener Rückkehrer aus Platons Gleichnis, den die Höhleninsassen bei seinem Versuch, sie zum Aufbruch zu bewegen, als Verblendeten massakrieren. Hier glauben sie dem jungen Recken, dass sich der Aufstieg ans Licht lohnt, allen Gefahren zum Trotz, denn nur so werden sie zu Autoren ihrer eigenen Geschichte. Um es mit Blumenberg zu sagen: „Man bemerkt, daß das Heraustreten aus der Höhle für Götter wie Menschen der Lebenspunkt der Imagination ist.“ Im endlosen Pandemielockdown wirkt das seltsam verheißungsvoll.

Love and Monsters, von heute an auf Netflix.

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