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#Ich bin nicht sicher

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„Ich bin nicht sicher“

Wewelsfleth ist noch nicht oft in der Literatur erwähnt worden, aber dort wurde schon viel Literatur geschrieben: im Al­fred-Döblin-Haus, das erst so heißt, seit Günter Grass es 1985, nach vorheriger eigener Nutzung als Arbeitsstätte, dem Land Berlin schenkte, damit diese dort ein Residenzhaus für literarische Stipendiaten einrichten konnte. Und 1997 tippte dann eine davon dort den Satz „Ich bin nicht sicher“ in ihren Computer.

Das war Judith Hermann. Damals kannte sie kaum jemand, denn „Sommerhaus, später“, der Erzählungsband, der sie berühmt machen sollte, erschien erst im Jahr darauf. Heute ist sie ein Star der deutschen Literatur, und ihr jüngster Roman „Daheim“ war ein Bestseller und ist vielfach preisgekrönt. Dennoch hätte „Ich bin nicht sicher“ eine gute Überschrift für ihre Frankfurter Poetikvorlesung abgegeben, an deren Ende sie sich an diesen Satz erinnerte. Stand er darum da? Und erinnerte sich Judith Hermann heute an ihn, weil er sie damals erschüttert oder weil sie ihn bei der Vorbereitung in einer alten Datei wiedergefunden hat? Auf Auskünfte zu solchen Fragen durfte man im Rahmen der drei exzellent besuchten Abende auf dem Campus der Goethe-Universität nicht hoffen. Sie standen ja auch unter einem anderen Motto: „Wir hätten uns alles gesagt“. Notabene: Konjunktiv II, Irrealis. Da ist man sich sicher übers Unsichere. „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“ lautete zudem der Untertitel. Aber musste dann auch im Reden etwas verschwiegen werden?

O ja, denn das Gesprochene war auf­geschrieben worden, schon vor mehr als einem Jahr, ehe die ursprünglichen Termine von Judith Hermanns Poetikvorlesung der Pandemie zum Opfer fielen. Das er­klärte Hermann zum Auftakt der Reihe, und sie warb um Verständnis dafür, dass sie nicht noch einmal von neuem mit dem Schreiben habe beginnen wollen. Deshalb las sie danach alles ab, wie es seit einem Jahr da stand, von der ersten bis zur letzten Minute der drei Abende, und änderte offenbar kein Jota. Mochte seit einem Jahr eine Zeitenwende stattgefunden oder – weniger gravierend – sich noch am Wochenende vor der Abschlussvorlesung eine Schriftstellervereinigung, in der auch Judith Hermann Mitglied ist, selbst zu zerlegen versucht haben – die Poetikdozentin focht es nicht an. Auch das sagt etwas aus über ihr Schreibverständnis.

Etwas Gutes? Zumindest ist Hermanns Haltung konsequent. „Im ersten Pandemiejahr bin ich von der Stadt aufs Land gezogen“, so hob die letzte Etappe der Poetikvorlesung an, im Tonfall an Büchners „Lenz“ erinnernd, und ähnlich changierend zwischen Einsamkeit und Begegnung wie die elsässische Episode des Protagonisten verlief denn auch offenbar das Hermann’sche Leben hinterm Deich an der Nordsee, mit dem sie einholte, was sie in „Daheim“ schreiben sollte. Dieser Roman hätte ursprünglich „Falle“ heißen sollen, aber für die Schriftstellerin war die Isolation eine Befreiung, und eine Begegnung mit einem Ladenbesitzer namens Marten schloss ihr die Welt auf, obwohl sie mit niemand anderem überhaupt Zeit verbringen wollte. „Ich schreibe hier über die Ge­schichten, die ich nicht geschrieben habe“, las Hermann vor und legte somit ihr Privatleben bloß – sollte man meinen.

Aber natürlich ist es komplizierter. Als sie Marten eröffnet habe, dass er in „Daheim“ nicht vorkommen werde, habe der ihr gesagt: „Da bin ich erleichtert.“ Hat sie ihn nun mit der Erwähnung in der Poetikvorlesung belastet? Wird er sich be­schweren? Man konnte sich ja des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Poetikvorlesung selbst eine Erzählung ist. Aber auch nicht mehr, denn eine Poetologie entfaltete Judith Hermann bestenfalls im Vollzug, nicht in der Theorie. Da haben wir in der langen Geschichte der Frankfurter Poetikvorlesungen ganz anderes gehört. Und würden es gerne wieder hören.

Gestreamt wurde übrigens nicht mehr. Die Aura der Präsenz, auch des Publikums, war wieder da. Und das folgte mit angehaltenem Atem, denn eine Erzählung verlangt natürlich nach einer Dramaturgie, und darin ist Hermann Meisterin. Wie sie etwa immer wieder Träume resümierte – und zwar gerade nicht analytisch, sondern phänomenologisch –, das hatte weit mehr zu bieten als eine bloße Materialsammlung. Und dann diese Sätze, die aus der Erinnerung wie Sicheln aufblitzten: „Ich bin nicht sicher.“ Oder auch einer von Marten: „Ich habe die Schlehen geschnitten.“ Und darauf der allerletzte der Poetikvorlesung: „Ich bin sicher, dass ich eine Geschichte schreiben werde, in der dieser Satz stehen wird.“ Damit ließ sie uns stehen, wir werden uns erinnern.

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