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#„Killers of the Flower Moon“: Martin Scorsese beschert Apple TV+ ein großes Epos

Robert De Niro und Leonardo DiCaprio in
Foto: Apple TV+

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In „Killers of the Flower Moon“ holt Martin Scorsese zur über dreistündigen Geschichtsstunde aus – eine große Bereicherung für Apple TV+ und das Kino.

Scorsese weiß noch immer zu überraschen. Einen epischen Western konnte man erwarten, ein im besten Sinne klassisches amerikanisches Historiendrama mit langem Atem. „Killers of the Flower Moon“ ist genau das und doch erstaunt, mit welch radikaler Unverfrorenheit Martin Scorsese („The Departed„) seine eigene Konstruktion zum Schluss wieder einreißt, um sein Publikum gehörig vor den Kopf zu stoßen. Es ist nicht die einzige Provokation, die sein Film vornimmt. Allein seine Perspektivierung birgt einiges an diskursivem Potential. „Killers of the Flower Moon“ ist nämlich ein Film der Täterfiguren.

Basierend auf dem gleichnamigen True-Crime-Sachbuch von David Grann erzählt Martin Scorsese vom systematischen Massenmord an den Osage-Indianern in Oklahoma. Im Reservat wurde Öl gefunden. Gleich zu Beginn von „Killers of the Flower Moon“ tanzen Männer in Zeitlupe unter dem schwarzen Gold, das fontänengleich aus dem Erdboden schießt. Mit dem Freudentaumel ist es einige Zeit später jedoch vorbei. Der rasant gestiegene Wohlstand der Osage ist den Weißen ein Dorn im Auge, also entwickeln die Gierigen ein grausames Vorgehen, um sich in Osage-Familien einzuheiraten und sich deren Geld und Ländereien unter den Nagel zu reißen.

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Lily Gladstone in "Killers of the Flower Moon"
Die Osage müssen um ihr Leben fürchten. Foto: Apple TV+

Robert De Niro, Leonardo DiCaprio und Lily Gladstone brillieren in „Killers of the Flower Moon“

Auftritt Leonardo DiCaprio und Robert De Niro: ersterer zum sechsten, letzterer zum zehnten Mal in einem Scorsese-Film. Ernest Burkhart (DiCaprio) kehrt Anfang der 1920er-Jahre heim aus dem Krieg, wo ihn sein Onkel (De Niro) empfängt und ihm ein lukratives Angebot unterbreitet. Ernest soll die wohlhabende Mollie (Lily Gladstone), Angehörige des Osage-Stammes, verführen, um diese um ihre Besitztümer zu erleichtern. Unterdessen werden immer mehr Leichen in der Gegend gefunden. Die Osage fürchten um ihr Leben. Selbstverständlich liegt nun die erzählerische Moralfrage nahe, wenn man eine solche wahre Geschichte reinszeniert und fiktionalisiert. Kommt die Opferperspektive dabei zu kurz? Ja, kommt sie.

Um Lily Gladstone wird bereits eine Oscar-Kampagne befeuert. Eine sehr talentierte Schauspielerin, zweifellos, doch bleibt sie eine Randerscheinung und Nebenfigur in diesem Film. Das Material, das sie vom Drehbuch überhaupt zum Spielen bekommt, ist in all ihren Leidensszenen nicht vergleichbar mit dem, was etwa Leonardo DiCaprio als ihr Gegenüber zur Verfügung gestellt bekommt. Dass Gladstones Figur in einen Zustand des Dahinsiechens verbannt wird, in die Rolle einer Ausgelieferten, einer meist stillen Beobachterin, während sich das eigentliche Drama zuvorderst um das dreiste Intrigieren und Zerrissensein von Ernest Burkhart dreht, muss man aushalten. Jeder seiner Liebesschwüre bringt Mollie näher an den Tod, was das Publikum, aber nicht die Bedrohte weiß. Scorsese schenkt ihrem Unheil, weniger den betroffenen Menschen eine Stimme. Und doch erscheint diese Perspektivierung auf unbequeme Weise dringlich.

Leonardo DiCaprio und Lily Gladstone in "Killers of the Flower Moon"
Ernest lässt sich von seinem Onkel zu einem perfiden Heiratsschwindel überreden. Foto: Apple TV+

Scorsese zerlegt erneut US-amerikanische Mythen

„Killers of the Flower Moon“ ist kein Betroffenheitskino, das noch einmal ausbreiten muss, wie schlimm all die Brutalität für die Opfer weißer, rassistischer Dominanzkultur sein muss. Scorsese liegt vielmehr daran, einen Stein in Richtung dieser Dominanzkultur zu werfen, sie verstörend und konsequent zu spiegeln. Sie in einer Laufzeit von über 200 Minuten mit ihren pervertierten systemischen Verbrechen zu konfrontieren, mit den Abgründen unter vorgegaukelter Freundlichkeit und Liebe, ist dafür ein angemessen erbarmungsloses Mittel.

Ein Film für all jene, die von den Gewalten der Vergangenheit profitieren. Amerikanischer Reichtum, begründet auf Diebstahl und Völkermord. Ein Porträt einer entzauberten Epoche, ein Porträt der Raffgierigen. Zynisch und hässlich ist jedoch nicht der Film, sondern das, was er zeigt. Scorsese hat in seinem langjährigen Schaffen immer wieder US-amerikanische Mythen dekonstruiert und reflektiert, ihre brutalen, unterdrückerischen Mechanismen aus Sicht ihrer Tätergestalten bloßgestellt. Der Verbrecher in all seinen Grautönen ist ein wiederkehrender Archetypus in seiner Filmographie, in die sich „Killers of the Flower Moon“ als weiteres spannendes historisches Puzzleteil einfügt.

Lily Gladstone und Leonardo DiCaprio in "Killers of the Flower Moon"
Szenen einer vergifteten Ehe. Foto: Apple TV+

Intimes Historien-Epos für das Kino und Apple TV+

Großmeisterliches Hollywood-Kino alter Schule gibt es hier zu erleben, das seine Schauspieler und Handlungen ebenso galant zu führen weiß wie seine stimmungsvoll ausstaffierten Bilder. Reif ist dieses Werk, da man ihm zwar das millionenschwere Budget in jeder Minute ansieht, aber nie den Eindruck bekommt, dass er sich um künstlich aufgeblasene Schauwerte oder Spektakel bemühen würde. Stattdessen ist „Killers of the Flower Moon“ ein verblüffend intimer Film geworden. Seine Ausmaße sind überbordend und doch ganz dicht reduziert.

Seine spannendsten Momente, gerade die Momentaufnahmen einer im wahrsten Sinne vergifteten Ehe, gleichen mehr einem bedrückenden Kammerspiel als den großen Hollywood-Western-Epen, an die sich Scorsese vordergründig anlehnt. Irgendwann brennt die Welt vor dem Fenster, als hätten sich ihre Bewohner selbst in die Hölle verfrachtet. Vielleicht kreist das hin und wieder etwas zu behäbig um etablierte Konflikte. Wenn man die Buchvorlage zuvor gelesen hat, vermisst man viele ihrer ausgeführten Hintergründe über die historische Konstellation. Scorsese hätte in besagter Laufzeit ebenso die Möglichkeit dazu gehabt, verengt ihre Dimensionen jedoch stark auf die Form eines Charakter- und Familiendramas.

Martin Scorsese am Set von "Killers of the Flower Moon"
Martin Scorsese inszeniert ein großes Spätwerk. Foto: Apple TV+

„Killers of the Flower Moon“ richtet sich auch gegen seine eigene Fiktionalisierung

Doch gerade, wenn man auf die Uhr schauen, Sinn oder Unsinn dieser zeitlich ausschweifenden Erzählform befragen will, reißt einem Scorsese im Finale erneut den Boden unter den Füßen weg. Nämlich dann, wenn seine Erzählung urplötzlich abreißt, der Fiktion die Bilder versiegen, vergangene, andauernde, gegenwärtige Gewalt die Fantasie bevölkert und sich anderer Sinnesreize zu bemächtigen versucht. Die audiovisuellen Bestandteile des Mediums fallen auseinander, entblößen sich in Transparenz.

Wer inszeniert, wer rezipiert hier überhaupt und warum? Wer profitiert am Ende wirklich davon? Nichts Neues im gewohnten Lauf der Welt, den ein ritueller Menschenreigen am Ende zu spiegeln scheint. Wenn das Verbrechen, die Marginalisierung, das rassistische Rauben und Morden plötzlich in Entertainment verwandelt und ausgeschlachtet wird, wie es gewissermaßen immer auch das Kino unternimmt – dann sind das beeindruckende, scharfe selbstreflexive Töne, die der Meister-Regisseur in diesem Spätwerk anklingen lässt.

„Killers of the Flower Moon“ läuft ab dem 19. Oktober 2023 in den deutschen Kinos und wird später im Jahr exklusiv bei Apple TV+ im Streaming erscheinen.

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Von

Janick Nolting

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