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#Klaviatur der unruhigen Träume

„Klaviatur der unruhigen Träume“

Wenn das Repertoire der zeitgenössischen Kunst irgendwann auch um die Ausdrucksform Audiowalk bereichert werden konnte, dann ist dies das Verdienst der kanadischen Künstlerin Janet Cardiff. Wer sich, ausgestattet mit MP3-Player und Kopfhörer, von ihr erzählen lässt, was einem direkt vor Augen liegt, erlebt die Dinge und die Zeit anders. Sieht die Umgebung wie eine prosaische Erinnerung.

So geschieht es auch im „Ittingen Walk“, einem ihrer ältesten Hörstücke aus dem Jahr 2002, das von der Kartause im Kunstmuseum Thurgau beauftragt worden war und zu den wenigen solcher Erkundungen zählt, die in einem Museum dauerhaft verfügbar sind. Stille, das Pochen von Schritten, aber auch Fluglärm erzeugen unterschiedliche Echos von aktueller und gewesener Gegenwart und bilden ein eigenes, fluktuierendes Kontinuum. Es ist, als ob das Jetzt mit einem Damals verschmilzt, als erinnere man sich an etwas, das man nie erlebt hat, und sähe das Diktum eines Roland Barthes – das fotografische „Es ist so gewesen“ – in Präsenz vor sich.

Dann vergisst man das Smartphone in der Tasche und all die News, die einen gerade erreichen. Stattdessen ist es der reale Raum, auf den sich die Wahrnehmung konzentriert, und ebendies in der Begleitung der imaginären Erzählerin. Diese möchte, so Cardiff, „dich denken lassen, du seist eine andere Person“. So ein Walk ist also ein Fluchtraum in einer anderen Realität, ein „Escape Room“, wie er im Sprachgebrauch der Künstlerin heißen könnte, die seit 1995 mit ihrem Landsmann George Bures Miller kooperiert.

Im Halbdunkeln ist gut schunkeln: Das eigens für das Lehmbruck-Museum Duisburg konzipierte Environment „Escape Room” von Cardiff & Miller.


Im Halbdunkeln ist gut schunkeln: Das eigens für das Lehmbruck-Museum Duisburg konzipierte Environment „Escape Room” von Cardiff & Miller.
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Bild: Lehmbruck Museum

„Escape Room“ heißt indessen eine andere, die jüngste Arbeit von Cardiff & Miller, zu sehen in einer Retrospektive des Künstlerpaars im Duisburger Wilhelm-Lehmbruck-Museum, ausgerichtet anlässlich des renommierten Preises, der ihm 2020 verliehen wurde und nach dem Namensgeber des Museums benannt ist. Das schummrige Interieur entstand während der Pandemie als Atelier-Allegorie, kleinteilig als Bricolage inszeniert. Eine abgerockte, nerdige Heimstätte der Phantasie gebiert Modelle einer dystopischen Welt – und bemüht sich arg deutlich um Theatralik und Mysterium. Eine minimalistische Tonlage schlägt dagegen das Environment der „Vierzigteiligen Motette“ von 2001 an, mit einem Oval aus vierzig aufgeständerten Lautsprechern, die denkbar einfach und umso überzeugender im großen Saal für Wechselausstellungen arrangiert sind. Gegeben wird die Renaissance-Komposition „Spem in Alium“ (Hoffnung auf einen anderen) von Thomas Tallis mit acht Chören zu je fünf Stimmen, denen man, wenn man von Box zu Box wandert, näherkommen und somit das Klangbild gleichsam individuell aussteuern kann. Das Konzerterlebnis mobil im Raum erfahrbar zu machen, diese Idee besticht. In dem kühlen Olymp der polyphonen Vokalmusik lässt sich lange verweilen, dieser Hort der Abgeschiedenheit hätte einem Meister Eckhart wohl zugesagt.

Wer zieht hier die Fäden im Hintergrund? Cardiff & Millers „Sad Waltz and the Dancer Who Couldn’t Dance“ von 2015.


Wer zieht hier die Fäden im Hintergrund? Cardiff & Millers „Sad Waltz and the Dancer Who Couldn’t Dance“ von 2015.
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Bild: Lehmbruck Museum

Wurden schon im Kino der Vierzigerjahre Chips geknuspert?

Die aufwendige Duisburger Ausstellung steckt die Bandbreite eines Œuvres ab, in dem Sounds aller Couleur, Geräusch und Gewisper, Musik, aber auch literarische Erzählung den Ton setzen. In einem Kinosaal im Stil der Vierzigerjahre hört man (wiederum aus einem Kopfhörer), wie die Sitznachbarn ihre Chips genießen, und blickt sich irritiert um, ob da tatsächlich jemand sitzt. Die beiläufigen Geräusche rücken einem auf den Pelz, sie verunsichern die eigene Verortung in diesem kleinen Cinema. An einem Mellotron, Vorläufer des Samplers aus den Sechzigerjahren, können die Besucher Platz nehmen und die Klänge eigenhändig, einzeln und oder in wüsten Akkorden anschlagen. Die 72 Tasten jenes „Instruments der unruhigen Träume“ von Cardiff & Miller sind mit Tonspuren von Stiefeln auf dem Dachboden, Wassertropfen, Hundegebell, Schüssen, Rascheln, Donner, Sturm belegt. Effektvoll werden diese über eine Vielzahl an Lautsprechern in den Raum getragen und lassen einen obskuren wie auch opulenten Soundtrack erklingen. Woraufhin sich zugleich eine Klangkulisse von Bedeutungen vor dem inneren Auge erhebt: Jeder Mensch ist ein Komponist, zumindest an dieser Klaviatur.

Im Innern leuchtet das blaue Licht der Romantik, die ein wichtiger Einfluss für das kanadische Künstlerduo ist: Detail aus Janet Cardiffs und George Bures Millers „Escape Room“, das im Lehmbruck-Museum Europapremiere hat.


Im Innern leuchtet das blaue Licht der Romantik, die ein wichtiger Einfluss für das kanadische Künstlerduo ist: Detail aus Janet Cardiffs und George Bures Millers „Escape Room“, das im Lehmbruck-Museum Europapremiere hat.
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Bild: Lehmbruck Museum

Ideen der Fluxus-Kunst leben in solchen Arbeiten mit ihren Angeboten spielerischer Partizipation weiter. Von Franz Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ inspiriert ist die „Tötungsmaschine“ von 2007, die die Besucher durch Knopfdruck in Gang setzen. Jene Folter an einem Forschungsreisenden vollzieht sich bei Cardiff & Miller an einem höchst virtuellen, nämlich gar nicht anwesenden Opfer auf einem Zahnarztsessel. Die Apparatur mutet durchaus kafkaesk an, knallharte Gesellschaftskritik ist aber weniger die Sache der beiden Künstler – die Kunstfolter bleibt denn auch mehr kinetische Skulptur, als Horror zu spiegeln. Trotzdem ist die Flucht in die Kunst Cardiff & Miller keine vor der Realität. Sie zielt geradewegs in jene Spielräume der Freiheit, die es zu verteidigen gilt.

Janet Cardiff & George Bures Miller. Im Lehmbruck-Museum, Duisburg; bis zum 14. August; anschließend im Museum Tinguely, Basel. Der Katalog im Wienand Verlag kostet 28 Euro.

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