Nachrichten

#Lebenslinien für neue Räume

„Lebenslinien für neue Räume“

Als Gertrud Louise Goldschmidt im Juni 1939 in Caracas ankam, hatte sie ihr Leben gerettet, doch der Lebensentwurf der jungen Architektin blieb von den Nationalsozialisten durchkreuzt. Kurz vor ihrer Flucht nach Venezuela war die gebürtige Hamburgerin eine der letzten jüdischen Immatrikulierten im NS-Staat gewesen, denen noch ein Diplomzeugnis ausgestellt wurde. Der Studienabschluss an der Technischen Hochschule Stuttgart ermöglichte es ihr gleichwohl nicht, als Baumeisterin in dem Land Fuß zu fassen, dessen Sprache sie zunächst nicht mächtig war. Ihr Studium aber legte das Fundament für eine andere Karriere: Unter dem Namen Gego wurde Gertrud Goldschmidt bildende Künstlerin. Mit ihren abstrakten Skulpturen, die im Stadtraum monumentale Maße annahmen, avancierte sie zu einer der wichtigsten Vertreterinnen der Nachkriegskunst Südamerikas. Bereits 1960 erwarb das Museum of Modern Art in New York eine erste Arbeit von ihr.

Das Kunstmuseum Stuttgart widmet Gego nun schon seine zweite monographische Schau binnen weniger Jahre – und erschließt die frühe Prägungen ihres Schaffens in der schwäbischen Metropole. Die Übertragung eines Konvoluts von hundert Arbeiten aus der Fundación Gego als Dauerleihgabe war 2017 Anlass für die erste retrospektive Ausstellung; nun folgt mit „Gego. Die Architektur einer Künstlerin“ der konzentrierte Blick auf das, was Gego im Studium gelernt, schöpferisch immer neu gestaltet und als Hochschullehrerin selbst weitervermittelt hat: die Kon­struk­tion aus der Linie heraus.

Linien warten auf Bewegung: Sonia Sanojas Originaltrikot für die mit Gego konzipierte Performance „Cuerdas“ im Jahr 1978.


Linien warten auf Bewegung: Sonia Sanojas Originaltrikot für die mit Gego konzipierte Performance „Cuerdas“ im Jahr 1978.
:


Bild: Fundación Sonia Sanoja / Alfredo Silva Estrada

Gut zwei Jahre hat die Kunsthistorikerin Stefanie Reisinger im Rahmen eines Forschungsprojekts des Kunstmuseums und der Universität Stuttgart die Verbindung zwischen der architektonischen Ausbildung und den künstlerischen Konzepten Gegos untersucht. Ausgangspunkt war die Rekonstruktion des Curriculums der Künstlerin an der Technischen Hochschule. Als Gertrud Goldschmidt sich 1932/33 immatrikulierte, wirkte an der zum Bauhaus-Antipoden stilisierten TH Stuttgart die heftige und politisch aufgeheizte Diskussion über die Weissenhofsiedlung nach, das bekannteste moderne Wohnbauprojekt der Weimarer Republik. Die Studentin absolvierte ein Programm zwischen Traditionalismus und Moderne. Zu ihren Lehrern gehörten Heinz Wetzel, Wilhelm Tiedje, Paul Bonatz – ihr Di­plom­betreuer – und der Künstler Karl Schmoll von Eisenwerth. Die von Letzterem vermittelte „Grammatik des Zeichnens“, die Definition von Strukturen, Oberflächen, Volumina mittels spezieller Schraffurtechniken, blieb zeitlebens Teil ihres handwerklichen Repertoires.

Vor allem Parallellinien beherrschen das Schaffen der Künstlerin: Vom Zwang als Mittel zum Zweck in technischen Zeichnungen befreit, versöhnen sie in Gestalt von Metallstäben Fläche und Raum in fassadenfüllenden „Murals“, die Gego 1969 in Caracas schuf, spannen sich als Seile konstruktivistisch zu einem 1967 ebenda realisierten Turm auf oder schwingen, wieder als Seile, in organischer Bewegung vom Trikot der Tänzerin Sonia Sanojas herabhängend, mit der Gego 1978 eine Performance realisierte.

„Zeichnen ohne Papier“

Solche eindrucksvollen Projekte sind in der thematisch strukturierten Schau fotografisch präsent, als Video, Reenactment oder mithilfe virtueller Realität, von Studierenden der Universität Stuttgart entwickelt. Die Original-Exponate, vor allem Zeichnungen, aber auch einige Metallobjekte und drei Künstlerbücher, illustrieren die Entfaltung von Gegos Linienpraxis. Skizzierend, planend, projizierend, hin zum skulpturalen „Zeichnen ohne Papier“. Aquarellierte Stadt- und Landschaftsansichten aus den Fünfzigerjahren machen den Anfang, gefolgt von abstrakten Radierungen aus den Sechzigern, die allenfalls noch Assoziationen an Architektonisches zulassen: ein Fenster, den Übergang zwischen Boden und Wand womöglich. Fast gewebeartig muten dagegen andere Arbeiten an und verweisen schon auf die Werkserie der „Tejeduras“ aus den Achtzigern. Sie erinnern daran, dass Gego in ihrer Studienzeit mit der Textilkünstlerin Viktoria Regener-Mintschina gut bekannt war, von der ein um 1920 entstandener abstrakter Teppich präsentiert wird.

Lineare Abstraktion: Gego, „Sin titulo“ (Tamarind 1853), 1966


Lineare Abstraktion: Gego, „Sin titulo“ (Tamarind 1853), 1966
:


Bild: Frank Kleinbach archivio Fudación Gego

Eine Linie kann einen Faden repräsentieren und zu Verflechtungen einladen. Auch das zeigt die Ausstellung und führt weiter zur Übersetzung in die dritte Dimension: Metallobjekte erproben im kleinen Maßstab, was Gego raumfüllend zu netzartigen Metallgespinsten, den „Reticuláreas“, ausarbeitete oder aufbauend auf im Studium angeeignete Materialkunde und statische Kenntnisse als Skulptur im öffentlichen Raum installierte – und heute leider meist in schlechtem baulichen Zustand oder verloren ist.

Wohin immer man auch blickt, die Architektin wird sichtbar. Oder, wie Gego, die 1994 in Caracas starb, selbst sagte: „Wenn ich auch der Architektur verloren gegangen bin und nicht durch sie das Leben hab’ meistern können, so hat sie mich doch, zum Teil gewiss, geformt.“

„Gego. Die Architektur einer Künstlerin, Kunstmuseum Stuttgart; bis 10. Juli. Der Katalog kostet 35 Euro.

Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat, vergessen Sie nicht, ihn mit Ihren Freunden zu teilen. Folgen Sie uns auch in Google News, klicken Sie auf den Stern und wählen Sie uns aus Ihren Favoriten aus.

Wenn Sie an Foren interessiert sind, können Sie Forum.BuradaBiliyorum.Com besuchen.

Wenn Sie weitere Nachrichten lesen möchten, können Sie unsere Nachrichten kategorie besuchen.

Quelle

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"
Schließen

Please allow ads on our site

Please consider supporting us by disabling your ad blocker!