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#Leselust als Tatmotiv?

Leselust als Tatmotiv?

Filippo Bernardini ist der Guglielmo Libri des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Sie kennen beide nicht? Dann sei Ihnen gesagt, dass Libri – nomen est omen – als der bislang größte Bücherdieb der Literaturgeschichte gilt. Der 1803 in Florenz geborene und später in Frankreich als Wissenschaftshistoriker zunächst zu durchaus ehrenvollem Ruhm gekommene Italiener stahl aus den Bibliotheken, mit denen er beruflich zu tun hatte, Tausende von wertvollen alten Büchern, bis er 1847 aufflog. Daraufhin setzte er sich als angeblicher politischer Flüchtling nach London ab und lebte lustig von den Verkäufen seines ebenfalls noch rechtzeitig außer Landes gebrachten Beutegutes.

Wer aber ist nun Filippo Bernardini? Ein unglücklicherer Bücherdieb, denn er wurde jetzt vom FBI bei der Einreise in die Vereinigten Staaten verhaftet. Der neunundzwanzigjährige Landsmann von Libri heuerte vor fünf Jahren bei der Londoner Niederlassung des amerikanischen Großverlags Simon & Schuster an und kümmerte sich dort um den Rechtevertrieb von Autoren des Hauses. Er stahl Bücher nicht physisch, sondern – ganz modern – als Dateien. Und zwar solche von Büchern, die im Regelfall noch gar nicht erschienen waren, von denen Bernardini aber durch seine Tätigkeit erfahren hatte. Da er aus dieser beruflichen Praxis auch die Namen von Kollegen auf der ganzen Welt kannte, schrieb er sie von fingierten Mail-Accounts aus an, deren Bezeichnungen leicht mit denen tatsächlich existierender Verlage oder Agenturen zu verwechseln waren, und bat um Zusendung der Dateien zwecks einer Prüfung auf Publikation in einem anderen Land. Insgesamt soll er, wie die „New York Times“ berichtete, mehr als 160 Websites unter irreführenden Namen eingerichtet haben, um sein Ansinnen glaubhafter zu machen. Unter den von ihm auf diese Weise erbeuteten Texten befanden sich laut „New York Times“ frisch eingereichte oder zum Druck bereits fertig vorbereitete Manuskripte der Friedenspreisträgerin Margaret Atwood oder des Schauspielers Ethan Hawke, der seit einigen Jahren auch Belletristik schreibt.

Prominente Autoren allein lockten ihn nicht

Die Rede ist zurzeit noch vorsichtig von „Hunderten“ derart er­schwindelter Dateien. Aber Bernardini ging bei seinen Betrügereien nicht nach Berühmtheit der jewei­ligen Autoren, sondern besorgte sich auch Dateien literarischer Debüts. Weil es bei seinen Machenschaften dementsprechend kein auffälliges Prominenzschema gab, blieb er lange unbehelligt. Ruchbar wurden sie nur deshalb, weil betrogene Verlagsmitarbeiter sich immer wieder wunderten, dass sie nie mehr etwas vom Adressaten ihrer Zusendungen hörten. Nachforschungen zu deren Verbleib bei den angeblichen Empfängern liefen aber dann ins Leere.

Bizarrerweise hat Bernardini je­doch keine einzige der so in seinen Besitz gelangten Dateien zu Geld gemacht – kein Weiterverkauf, keine Erpressung. Wir haben es also vermutlich mit einem großen Literaturliebenden zu tun, nicht mit einem geldgierigen Bücherdieb. Auch dafür gibt es in der Geschichte bibliophiler Kleptomanie einen bekannten Vorläufer: Aloys Pichler, einen bayerischen Theo­logen, der 1868 Bibliothekar am Zarenhof in Sankt Petersburg wurde und bald damit begann, zum privaten Lesevergnügen die ihm anvertraute Bibliothek zu plündern. Diese Leidenschaft brachte ihm nach deren Entdeckung sibirische Gefangenschaft ein. Ähnlich bibliomanisch muss man sich wohl auch Bernardinis Motivation vorstellen; auf seinem Linkedin-Profil gibt er als seine große Faszination „das geschriebene Wort und Sprachen“ an.

Die andere große Leidenschaft des Diebs

Das dürfte ihn indes nicht vor Strafe in den Vereinigten Staaten schützen, wo der Großteil der von ihm betrogenen Verlage sitzt (andere Schwerpunkte seiner Aktivitäten waren Taiwan und Schweden) und also Anklage gegen ihn erhoben wird. Schadenersatz dürfte er zwar angesichts seines Verzichts auf kommerzielle Nutzung der ergaunerten Dateien nicht zu leisten haben, aber eine Verurteilung zu einer Haftstrafe in dem auf ihn wartenden Straf­prozess dürfte angesichts der Be­weislage sicher sein. Dann hätte Filippo Bernardini Zeit, seine andere von ihm genannte große Begeisterung zu pflegen: Schon im vergangenen Jahr hatte der studierte Sinologe immerhin den internationalen Bestseller „Kim Jiyoung, geboren 1982“ der koreanischen Autorin Cho Nam-Joo ins Italienische gebracht. So kämen dann Buchtextdateien legal in seine Zelle.

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