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#Missbrauch in der Kirche: Eine Chronik der Aufarbeitung

Missbrauch in der Kirche: Eine Chronik der Aufarbeitung

Das Jahr 2002

April: Unter dem Druck der Enthüllungen über sexuelle Gewalt durch Geistliche in Irland und den Vereinigten Staaten, die viele Jahre später im Spielfilm „Spotlight“ nachgezeichnet werden, beraten die katholischen Bischöfe in Deutschland erstmals über das Thema Missbrauch. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Mainzer Bischof Karl Kardinal Lehmann, ist davon überzeugt, dass es Missbrauch in der Kirche „nicht in diesem Ausmaß“ gebe wie in den Vereinigten Staaten.

Daniel Deckers

Daniel Deckers

in der politischen Redaktion verantwortlich für „Die Gegenwart“.

Thomas Jansen

Dabei war sechs Jahre zuvor im Bistum Fulda ein Pfarrer wegen zehnfachen sexuellen Missbrauchs verurteilt wurden, der zuvor nach Kassel versetzt worden war, obwohl der Bistumsspitze frühere Verfehlungen bekannt waren. Die Staatsanwaltschaft hatte deswegen ein Ermittlungsverfahren gegen Erzbischof Johannes Dyba und Weihbischof Johannes Kapp wegen Verletzung der Fürsorgepflicht eingeleitet. Dieses wurde „wegen geringen Verschuldens“ eingestellt. Bischöfe, die Missbrauchstäter versetzten, konnten sich weiterhin vor staatlicher Kontrolle sicher wähnen. Die aus einem „Kirchenvolksbegehren“ im Jahr 1995 hervorgegangene Organisation „Wir sind Kirche“ dringt auf eine unabhängige Ombudsstelle für Personen, die von Klerikern oder Ordensleuten missbraucht wurden.

Juni: In den Vereinigten Staaten soll nach dem Willen der Bischöfe künftig jeder Verdacht auf sexuelle Gewalt gegen Minderjährige der Justiz gemeldet werden. Die deutschen Bischöfe haben ein solches Vorgehen im April abgelehnt.

August: Die F.A.Z. berichtet über eine Anlaufstelle für Opfer sexueller Gewalt, die die katholische Bischofskonferenz der Niederlande sowie die Höheren Oberen der Orden und Kongregationen des Landes im Jahr 1995 ins Leben gerufen haben. Das interdisziplinär zusammengesetzte Gremium namens „Hulp en Recht“ hat innerhalb von sieben Jahren 180 Beschwerden aufgenommen. 39 Klagen gegen kirchliche Mitarbeiter waren verhandelt worden, 24 davon hatten sich als begründet erwiesen. In Deutschland werden über den Sommer immer wieder Fälle bekannt, in denen Priester unter Missbrauchsverdacht geraten sind.

September: Während ihrer Herbst-Vollversammlung einigen sich Bischöfe in Deutschland auf Drängen der Personalverantwortlichen in ihren Diözesen auf Regelungen zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger. Die sogenannten „Leitlinien zum Vorgehen bei Fällen sexuellen Missbrauchs im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ sollen eine einheitliche Vorgehensweise sicherstellen. Eine zentrale Anlaufstelle für Betroffene nach dem Vorbild der Niederlande oder einzelne Ombudsstellen nach dem Vorbild der österreichischen Diözesen lehnen die Bischöfe ebenso ab wie eine verpflichtende Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden sowie die Zahlung von Schmerzensgeld. Lehmann spricht davon, dass in der Vergangenheit oft „unangemessen“ reagiert worden sei, etwa durch Versetzungen in andere Pfarreien. „Im Blick auf die Opfer bedauern wir dies zutiefst.“

Die Basilika Santa Maria Maggiore, eine der Hauptkirchen Roms.


Die Basilika Santa Maria Maggiore, eine der Hauptkirchen Roms.
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Bild: Picture-Alliance

Dezember: In Boston tritt Erzbischof Bernard Kardinal Law von seinem Amt zurück. Er hatte über Jahre hinweg pädophile Priester gedeckt und Aufklärungsbemühungen behindert. Gegen das von irischstämmigen Katholiken geprägte Erzbistum sind mehr als 450 Missbrauchsklagen anhängig. 2004 ernennt Papst Johannes Paul II. den dann 74 Jahre alten Kardinal zum Erzpriester der römischen Basilika Santa Maria Maggiore, wo er unbehelligt seinen Lebensabend verbringt.

Das Jahr 2003

April: Unter dem Titel „Abuse of Children and Young People by Catholic Priests and Religious“ richtet der Vatikan eine Konferenz zum Thema Kindesmissbrauch aus. Die vatikanische Kongregation für die Glaubenslehre wird derweil von einer Welle von Meldungen über Missbrauchsfälle überrollt. Im Jahr 2003 sind es etwa 800 Fälle, im Jahr 2004 kommen 700 weitere hinzu, die meisten davon aus den Vereinigten Staaten. Die Glaubenskongregation hatte die Zuständigkeit nach einer Änderung der Zuständigkeiten für die Behandlung von Fällen von Kindesmissbrauch durch Geistliche im Jahr 2001 auf Betreiben des damaligen Präfekten Joseph Kardinal Ratzinger an sich gezogen.

In Deutschland bleibt es um die katholische wie die evangelische Kirche ruhig. Als im Herbst der bislang größte international tätige Ring von Händlern mit Kinderpornographie aufgedeckt wird, kommen aus der Politik Stimmen, dass es mit der „Bagatellisierung von Kinderpornographie“ ein Ende haben müsse. Strafrechtlich stehe die Verbreitung von Kinderpornographie als „Vergehen“ auf einer Stufe mit Schwarzfahren in öffentlichen Verkehrsmitteln. Es dauert bis zum Jahr 2020, bis die Politik ernsthaft versucht, den Strafrahmen für sexuelle Gewalt gegen Minderjährige sowie für die Herstellung, den Besitz und die Verbreitung von Kinderpornographie grundlegend neu zu fassen.

Das Jahr 2004

Juni: In den Vereinigten Staaten veröffentlicht das angesehene John Jay Institute of Criminal Justice der City University of New York einen Bericht über Ausmaß und Art des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch katholische Priester und Diakone zwischen 1950 und 2002. Demnach wurden in dem fraglichen Zeitraum 4392 Kirchenmitarbeiter, darunter 929 Ordensgeistliche, angeklagt, insgesamt 10.667 Personen sexuell missbraucht zu haben. In Relation zu den in dieser Zeit im Land tätigen katholischen Priestern entspreche dies einem Anteil von rund vier Prozent. Laut der Studie, die von der amerikanischen Bischofskonferenz in Auftrag gegeben worden war, haben sich 75 Prozent der Missbrauchsfälle zwischen 1960 und 1984 ereignet.

Die Pressestelle der Deutschen Bischofskonferenz will nicht sagen, wie viele Missbrauchsfälle seit 2002 nach den „Leitlinien“ behandelt wurden. Eine Evaluation sei weiterhin nicht vorgesehen. Ehe in Deutschland eine vergleichbare Studie für die katholische Kirche vorgelegt wird, werden 14 Jahre vergehen. Die evangelische Kirche wird eine Untersuchung erst im Jahr 2020 in Auftrag geben.

Das Jahr 2005

April: Joseph Kardinal Ratzinger, der langjährige Präfekt der vatikanischen Kongregation für die Glaubenslehre, wird unter dem Namen Benedikt XVI. Nachfolger des verstorbenen Papstes Johannes Paul II. Vor seiner Berufung nach Rom war Ratzinger von 1979 bis 1984 Erzbischof von München und Freising. In der Berichterstattung über den neuen Papst spielt das Thema Missbrauch keine Rolle.

In den Vereinigten Staaten muss sich der Popstar Michael Jackson wegen Kindesmissbrauchs vor Gericht verantworten.

Papst Benedikt XVI. im Jahr 2010 im Gespräch mit dem Dekan des Kardinalkollegiums, Angelo Kardinal Sodano.


Papst Benedikt XVI. im Jahr 2010 im Gespräch mit dem Dekan des Kardinalkollegiums, Angelo Kardinal Sodano.
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Bild: Reuters

Das Jahr 2006

Oktober: Während einer Begegnung mit Bischöfen aus Irland bezeichnet Papst Benedikt XVI. die Fälle von Kindesmissbrauch durch Priester als „zahlreich, schrecklich und tragisch“. Allerdings dürfe „die Arbeit der großen Mehrheit der Priester und Ordensleute nicht von den Übertretungen einiger ihrer Brüder verdunkelt werden“.

Dezember: Am Sitz der Vereinten Nationen wird eine Konferenz abgehalten, die der Verhinderung von sexueller Ausbeutung und sexuellen Missbrauchs durch Mitglieder von UN-Friedenstruppen und UN-Personal gewidmet ist. Die „Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ widmet sich Vorschlägen zur Verhinderung sexueller Übergriffe auf Patienten. In Deutschland und den Vereinigten Staaten hat jeder zehnte Psychiater und Psychotherapeut zugegeben, sexuelle Kontakte zu seinen Patienten aufgenommen zu haben. Zu 90 Prozent ist der Täter ein Mann und das Opfer eine Frau.

Das Jahr 2007

Februar: In Österreich sprengt die Polizei einen Kinderporno-Ring. Ermittelt wird gegen mehr als 2000 Verdächtige in 77 Ländern.

Mai: In der virtuellen Welt „Second Life“ gibt es etliche Nutzergruppen, deren Mitglieder kindliche Spielfiguren online gegen Geld missbrauchen. Außerdem werden in der virtuellen Welt kinderpornographische Aufnahmen verbreitet. An der Berlin Charité sucht ein Therapie-Projekt für pädophile Männer unter dem Namen „Kein Täter werden“ nach Geldgebern.

Juli: Der Wiesbadener Verein „Wildwasser“, der seit zwanzig Jahren Mädchen und Frauen berät, die von sexueller Gewalt betroffen sind, registriert in jedem Jahr zwischen 300 und 400 Fälle. In nahezu der Hälfte der Fälle werden der Vater oder Stiefvater beschuldigt.

Der vormalige Bischof von Regensburg Gerhard Ludwig Müller im Jahr 2016 als Kardinal.


Der vormalige Bischof von Regensburg Gerhard Ludwig Müller im Jahr 2016 als Kardinal.
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Bild: dpa

September: Im Bistum Regensburg wird ein katholischer Geistlicher wegen sexueller Übergriffe auf Minderjährige verhaftet. Der Mann war schon im Jahr 2000 wegen Missbrauchs Minderjähriger zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten auf Bewährung von drei Jahren verurteilt worden, aber schon bald wieder in der Seelsorge eingesetzt worden. Bischof Gerhard Ludwig Müller weist den Vorwurf zurück, sein Verhalten stehe im Widerspruch zu den Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger. Diese würden die Diözesen nicht von der Verantwortung entbinden, eigene Entscheidungen zu treffen.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Mainzer Kardinal Lehmann, erläutert kurze Zeit später, weder die Bischofskonferenz noch er als deren Vorsitzender seien in der Lage, in die Befugnisse der einzelnen Diözesanbischöfe einzugreifen. Papst Benedikt XVI. wird Müller im Jahr 2012 zum Präfekten der vatikanischen Kongregation für die Glaubenslehre ernennen, Papst Franziskus macht ihn zum Kardinal.

Das Jahr 2008

April: Bei seinem Besuch in den Vereinigten Staaten rügt Papst Benedikt XVI. die Bischöfe wegen ihrer zögerlichen Aufarbeitung der Pädophilieskandale. Priester, die Kinder sexuell missbrauchten, seien „ernsthaft unmoralisch“. Pädophilie sei aber in jedem Gesellschaftsbereich zu finden. Die katholische Kirche in den Vereinigten Staaten hatte alleine im Jahr 2007 rund 400 Millionen Dollar Entschädigung an Missbrauchsopfer gezahlt.

September: Die Schweizer Justiz hebt einen Pädophilen-Ring aus, in dem hauptsächlich Deutsche kinderpornografische Dateien im Internet getauscht hatten. Etwa 600 Männern drohen Ermittlungen des Bundeskriminalamts. Die St. Galler Justiz verhaftet vier Männer wegen Missbrauchs eines zwölfjährigen Mädchens.

Das Jahr 2009

Februar: In Berlin nimmt ein Runder Tisch Beratungen über das Schicksal von Heimkindern auf. Diese waren in den fünfziger und sechziger Jahren vielfach misshandelt, geschlagen, zur Arbeit gezwungen und missbraucht worden. Die Vorsitzende des Runden Tischs, die frühere stellvertretende Bundestagspräsidentin Antje Vollmer (Grüne), sagt, es gehe nicht um ein Tribunal oder um eine Anklage, auch nicht gegen kirchliche Träger, sondern um ein ergebnisoffenes Gespräch in einem „Wahrheitsausschuss“. Die Kirchen müssten sich aber „Fragen nach innen“ stellen, da etwa vier Fünftel aller Erziehungsheime in kirchlicher Trägerschaft waren.

März: Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen zieht mit dem Vorhaben, den Zugang zu Internetseiten mit Kinderpornographie zu erschweren, massive Kritik der Internetwirtschaft und der sogenannten Netzgemeinde sowie des Koalitionspartners SPD auf sich. Als von der Leyen 2019 Präsidentin der EU-Kommission wird, wird die CDU-Politikerin von interessierten Kreisen noch immer als „Zensursula“ verhöhnt. Der Besitz von Kinderpornographie ist in Deutschland erst seit 1993 strafbar, davor war es nur deren Verbreitung.

Mai: In Irland kommt eine unabhängige Kommission zu dem Ergebnis, dass über Jahrzehnte hinweg Tausende Kinder in kirchlich geführten Kinderheimen und Erziehungsanstalten für Waisen sexuell und gewalttätig missbraucht wurden. Mehr als 800 Priester, Mönche und Nonnen und Laienmitarbeiter der Anstalten wurden als Täter beschuldigt.

Oktober: In Deutschland wird ein Ring von Herstellern und Verbreitern von Kinderpornographie gesprengt. Insgesamt sind 136 Personen verdächtig, in der einen oder anderen Form an der Verbreitung von Bildern beteiligt zu sein, bei denen Kinder entsetzlichen seelischen und körperlichen Qualen ausgesetzt wurden.

November: Eine neue Untersuchung über Kindesmissbrauch durch Priester und Angestellte der katholischen Kirche Irlands wirft den vier Inhabern des Dubliner Erzbischofsstuhls vor dem gegenwärtigen Erzbischof Diarmuid Martin vor, sie hätten allesamt Berichte über sexuellen Missbrauch von Kindern durch Priester ihrer Diözese erhalten, es aber versäumt, sie der Polizei oder den Behörden zu melden.

Das Jahr 2010

Januar: Der Rektor des Berliner Gymnasiums Canisius-Kolleg der Jesuit, P. Klaus Mertes SJ, schreibt nach einem Gespräch mit drei ehemaligen Schülern, darunter Matthias Katsch, an die Schüler aus den 1970er und 1980er Jahren einen Brief. Drei Jesuiten haben sich in dieser Zeit an dutzenden Schülern vergriffen, bis hin zu schwerem sexuellen Missbrauch. Mertes will dazu „beitragen, dass das Schweigen gebrochen wird“. Nachdem die Initiative durch die „Berliner Morgenpost“ öffentlich geworden ist, wenden sich Betroffene überall in Deutschland an Bistümer und Ordensgemeinschaften.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Freiburger Erzbischof Zollitsch, während des „Bußaktes“ zu Beginn der Frühjahrs-Vollversammlung im Jahr 2011.


Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Freiburger Erzbischof Zollitsch, während des „Bußaktes“ zu Beginn der Frühjahrs-Vollversammlung im Jahr 2011.
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Bild: dpa

Februar: Der Augsburger Bischof Walter Mixa, macht „die sogenannte sexuelle Revolution“ für die jüngst bekanntgewordenen Fälle von Missbrauch durch katholische Geistliche mitverantwortlich. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Bundestagsfraktion, Volker Beck, nennt die Äußerungen Mixas „historisch absurd“.

Der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode gesteht Fehler der Kirche im Umgang mit Missbrauchsfällen ein. In den siebziger Jahren sei noch nicht klar gewesen, dass die sexuelle Neigung zu Kindern eine lebenslange Prägung sei. Die Kirche habe angenommen, dass sich die Probleme durch Läuterung der Täter lösen ließen.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch, sagt zu Beginn der Frühjahrs-Vollversammlung, Missbrauch sei kein systemisches Problem der Kirche und habe „nichts mit dem Zölibat und nichts mit der Sexuallehre der Kirche zu tun“. Es ist eine Frage, „wie ein Mensch veranlagt ist.“ Zum Abschluss der Tagung heißt es, die Bischöfe wollten die Fälle sexuellen Missbrauchs in der Kirche durch „lückenlose und absolut transparente Aufklärung frei von falscher Rücksichtnahme“ aufklären.

Als langjährigem Personalchef des Erzbistums Freiburg ist Zollitsch das wahre Ausmaß der Vertuschung von Missbrauchsfällen bewusst – eigene Verfehlungen eingeschlossen. Zu einer unabhängigen Untersuchung kommt es infolgedessen nie. Unterstützt wird Zollitsch bei diesem Kurs durch den Sekretär der Bischofskonferenz, den Jesuiten Hans Langendörfer, und den neuen Missbrauchsbeauftragten der Bischofskonferenz, den Trierer Bischof Stephan Ackermann.

An die Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) gerichtet, die der Kirche mangelnden Willen zur Aufklärung vorgeworfen hatte, sagt Zollitsch, die Ministerin habe falsche Behauptungen aufgestellt; sie habe die Rechtstreue der Kirche in Zweifel gezogen. Deshalb habe er zunächst eine Frist von 24 Stunden zur Zurücknahme ihrer Äußerungen gesetzt, diese aber umgehend zurückgenommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stellt sich hinter Zollitsch. Nach einem Telefonat der Bundeskanzlerin mit Zollitsch heißt es, Frau Merkel habe „keinen Zweifel daran, dass die Bischöfe die Opfer im Blick hätten“.

März: Die Staatsanwaltschaft veranlasst eine Hausdurchsuchung in der Benediktinerabtei Ettal. Etwa 20 Personen haben angegeben, als Schüler von Ordensbrüdern geschlagen oder missbraucht worden zu sein.

Die österreichischen Bischöfe wollen mit zusätzlichen Regelungen einen wirksameren Umgang kirchlicher Verantwortungsträger mit Fällen von sexuellem Missbrauch sicherstellen. In den vergangenen 15 Jahren waren in allen österreichischen Diözesen „Ombudsstellen für Opfer sexuellen Missbrauchs in der Kirche“ eingerichtet worden. Diese sollen künftig vernetzt werden.

Die katholischen Bischöfe der Niederlande beauftragen den protestantischen Politiker Wim Deetman damit, eine „breite, externe und unabhängige“ Untersuchung über Missbrauch durch Geistliche im 20. Jahrhundert durchzuführen. Mehrere hundert Niederländer haben sich in den vergangenen Wochen bei „Hulp en Recht“ gemeldet, weil sie in der Vergangenheit durch Geistliche missbraucht worden seien.

Das Erzbistum München-Freising bestätigt, dass während der Amtszeit Joseph Ratzingers als Erzbischof ein „schwerer Fehler“ im Umgang mit einem Geistlichen begangen worden sei, der sich an Kindern vergangen hatte. Der heutige Papst sei 1980 an dem Beschluss beteiligt gewesen, einen Kaplan aus dem Bistum Essen aufzunehmen, der in München eine Therapie wegen sexuellen Missbrauchs von Jungen machen sollte. Abweichend davon habe der Generalvikar den Kaplan ohne Wissen Ratzingers „uneingeschränkt zur Seelsorgemithilfe“ in einer Münchner Pfarrei angewiesen.

Nach Einschaltung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) haben sich die Bundesministerinnen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Justiz; FDP), Kristina Schröder (Familie; CDU) und Annette Schavan (Bildung; CDU) auf ein gemeinsames Vorgehen bei der Aufarbeitung der jüngst bekanntgewordenen Fälle sexuellen Missbrauchs geeinigt. Leutheusser-Schnarrenberger hatte zunächst darauf beharrt, nur die katholische Kirche solle an einem Runden Tisch zur Aufarbeitung der Fälle beitragen.

Papst Benedikt XVI. bittet in einem Schreiben an die Katholiken Irlands die Opfer sexueller Gewalt um Entschuldigung. „Im Namen der Kirche bekunde ich offen die Scham und Reue, die wir alle empfinden“, heißt es in dem Schreiben. An die Opfer gewandt, erklärt der Papst: „Ihr habt schwer gelitten, und das tut mir aufrichtig leid.“ Den Tätern drohte er Rechenschaft „vor dem allmächtigen Gott und vor den zuständigen Gerichten“ an. Den Bischöfen wirft er „schwere Fehler“ vor. Zu den Ursachen für die „Krise“ zähle er auch „eine fehlgeleitete Sorge für den Ruf der Kirche und die Vermeidung von Skandalen“. Auf die Situation in Deutschland geht der Papst nicht ein; er schreibt jedoch, das Problem des Kindesmissbrauchs sei „weder spezifisch für Irland noch für die Kirche“.

Auch auf den Sport könnte ein Skandal um Missbrauchsfälle zukommen. „In unserer Arbeit mit Opfern wird dieser Bereich wesentlich häufiger genannt als der Missbrauch in der Kirche“, sagt Ursula Enders von „Zartbitter“, einer Organisation für missbrauchte Jungen und Mädchen, der F.A.Z.

Die SPD-Politikerin und vormalige Bundesfamilienministerin Christine Bergmann wird von der Bundesregierung als unabhängige Beauftragte für Fälle von sexuellem Missbrauch benannt.

Kurz vor dem hundertjährigen Bestehen der Odenwaldschule (OSO) wird abermals öffentlich, dass Schüler der reformpädagogischen Einrichtung systematisch von dem früheren Schulleiter Gerold Becker und mehreren Lehrern missbraucht wurden. Fünf der sieben Mitgliedern des Vorstands des Trägervereins treten zurück. Die ausgeschiedene Vorstandsvorsitzende Sabine Richter-Ellermann sagt: „Wir haben vielleicht mitgeschwiegen, weil wir so etwas nicht für möglich gehalten haben.“ Erste Berichte über sexuelle Gewalt an der Odenwaldschule hatte die „Frankfurter Rundschau“ 1999 veröffentlicht. Die Landespolitik und die Schulaufsicht reagierten nicht. Die Schule wird 2015 geschlossen.

Die Deutsche Bischofskonferenz richtet eine „Hotline für Opfer sexuellen Missbrauchs“ ein.

Der Mainzer Bischof Karl Kardinal Lehmann sieht die katholische Kirche nach den Enthüllungen zahlreicher Missbrauchsfälle in einer tiefgreifenden Krise. In der F.A.Z. schreibt der langjährige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, die Kirche dürfe sich nicht wundern, wenn sie jetzt an jenen Kriterien gemessen werde, mit denen sie sonst ihre sittlichen Überzeugungen vertrete.

In einer Predigt erinnert der Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller an das couragierte Auftreten katholischer Frauen in der NS-Zeit. In Anspielung auf Berichte über aktuelle Missbrauchsfälle sagt der Bischof, auch jetzt gebe es eine „Kampagne gegen die Kirche“. Der Zentralrat der Juden in Deutschland sowie SPD und Grüne in Bayern sind empört.

April: Zu Beginn des Ostergottesdienstes wendet sich ranghöchste Kurienkardinal Angelo Sodano an den Papst: „Das Volk Gottes ist mit Ihnen und wird sich nicht von dem Geschwätz des Augenblicks beeindrucken lassen, auch nicht von den Prüfungen, die bisweilen die Gemeinde der Gläubigen treffen“, sagt Sodano, ohne die Missbrauchsfälle zu erwähnen.

Die Osterausgabe der Vatikanzeitung „Osservatore Romano“ bezeichnet die Missbrauchsdebatte als „plumpe Propaganda gegen den Papst und die Katholiken“. Das Blatt veröffentlicht Stellungnahmen zahlreicher Bischöfe und Kardinäle, unter anderen aus Paris, Lima, Mexiko-Stadt und Madrid, gegen die „verleumderischen Angriffe und die Diffamierungskampagne, die um das Drama der Fälle sexuellen Missbrauchs herum konstruiert wurden“. Papst Benedikt ist in mehreren Zeitungsartikeln vorgeworfen worden, er könnte als Erzbischof von München und Freising an der Vertuschung von Missbrauchsfällen mitgewirkt haben.

In Belgien tritt der Bischof von Brügge, Roger Vangheluwe, zurück. Zuvor hat er eingestanden, sich jahrelang an einem Neffen vergangen zu haben.

Die österreichische Bischofskonferenz initiiert eine „Unabhängige Opferschutzanwaltschaft – Initiative gegen Missbrauch und Gewalt“. Die Opferschutzanwaltschaft wird von der ÖVP-Politikerin Waltraud Klasnic geleitet und soll sich auf die Entscheidungen und Empfehlungen einer Unabhängigen Opferschutzkommission stützen. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, der Wiener Kardinal Christoph Schönborn OP, sichert die absolute Unabhängigkeit der Opferschutzanwaltschaft und die volle Kooperation aller Stellen der katholischen Kirche in Österreich zu. Im Juli beschließt die Kommission ein Modell für Höhe und Abstufungen von finanziellen Hilfestellungen. Diese sollen über den durchschnittlichen staatlichen Sätzen liegen und verstehen sich als Richtwerte für reine Schmerzensgeldzahlungen. Therapiekosten, die auch ein Mehrfaches betragen können, werden besonders abgegolten. Das Modell sieht vier Stufen von 5000 Euro an vor, die Schwere, Dauer und Folgen der Übergriffe berücksichtigen.

Die katholische Kirche in Südwestdeutschland hat im März so viele Mitglieder wie selten zuvor verloren. In der Erzdiözese Freiburg waren es 2711, fast drei Mal so viele wie im März 2009, als die Diskussion über die Pius-Brüder schon viele Kirchenmitglieder zum Austritt veranlasst hatte. In der Diözese Rottenburg-Stuttgart erklärten im März 2676 Christen ihren Austritt aus der Kirche. Im Februar, also vor dem Beginn der Diskussion über sexuellen Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen, hatten nur 921 Christen ihren Austritt erklärt.

Der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann analysiert in einem Essay für die F.A.Z die Gründe für die „moralische Lethargie in der Kirche“ im Umgang mit Missbrauchsfällen. „Vieles dürfte an veralteten kirchlichen Selbstverständnissen und Strukturen liegen, deren Grundlagen bis ins Hochmittelalter zurückreichen und die den Geist des Absolutismus noch nicht überwunden haben. Die unkontrollierbare päpstliche und bischöfliche Allzuständigkeit hat ihre organisatorische Zweckmäßigkeit längst verloren, und mit wachsender Vernetzung der Weltkirche wird das Fehlen eines geordneten Regierungssystems im Vatikan immer irritierender (…) Die gegenwärtige Vertrauenskrise gegenüber der katholischen Kirche betrifft nicht so sehr deren Personal, das wahrscheinlich in der Geschichte noch nie qualifizierter und vielleicht auch moralisch kompetenter war. Sie betrifft die Kirche als soziale Institution, ihren Zentralismus, ihr monokratisches Selbstverständnis, die klerikalen Mentalitäten, die Ineffektivität einer immer noch höfischen Organisation und den Mangel an Rechtssicherheit und Fairness angesichts konflikthafter Entwicklungen.“

Der Augsburger Bischof Walter Mixa wird nach Vorwürfen von erheblicher Tragweite im Frühjahr 2010 zum Rückzug gedrängt.


Der Augsburger Bischof Walter Mixa wird nach Vorwürfen von erheblicher Tragweite im Frühjahr 2010 zum Rückzug gedrängt.

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Bild: dpa

Mai: Das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz hat offiziell weiterhin keinen Überblick darüber, wie viele Geistliche in Deutschland seit 2002 unter der Geltung der bischöflichen Leitlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch in den Verdacht sexueller Übergriffe auf Kinder und Jugendliche geraten sind. Somit ist auch keine Aussage möglich, wie viele Geistliche wegen Missbrauchs mit Strafverfolgungsbehörden in Kontakt geraten sind und zu welchen Ergebnissen die Ermittlungen jeweils geführt haben. Geleitet wird das Sekretariat seit 1996 von dem Jesuiten Hans Langendörfer.

Papst Benedikt XVI. nimmt das Rücktrittsgesuch des Augsburger Bischofs Walter Mixa an. Mixa war wegen Gewaltvorwürfen und einem Missbrauchsverdacht unter Druck geraten. Der Papst entbindet Mixa auch von seinem Amt als Militärbischof. Im Jahr 2005 hatte Benedikt XVI. ihn zum Bischof von Augsburg ernannt.

Juni: Seit Februar haben sich mehr als tausend Personen mit Berichten über sexuellen Missbrauch bei der Beauftragten der Bundesregierung, Christine Bergmann, gemeldet. Diese Fälle haben sich demnach zu rund einem Drittel im familiären Umfeld oder im „sozialen Nahbereich“ des Opfers, zu einem Drittel in einer kirchlichen Einrichtung und zu einem Drittel in einer anderen Einrichtung zugetragen. Frau Bergmann fordert, sexuelle Gewalt gegen Kinder müsse gesellschaftlich geächtet werden. „Täterschutz darf nicht länger vor Opferschutz stehen.“

Juli: Im Kloster Ettal können der frühere Abt Barnabas Bögle und der frühere Prior Maurus Kraß in ihre Ämter zurückkehren. Nach Auffassung der vatikanischen Kongregation für die Ordensleute haben sie nicht gegen die kirchlichen Leitlinien bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch verstoßen. Bögle und Kraß war zur Last gelegt worden, sie hätten auf einen Verdachtsfall nicht angemessen reagiert. Ein deutlich kritischerer Visitationsbericht wird vom Vatikan unterdrückt. Nach einem Bericht eines Sonderermittlers sind in der Internatsschule des Klosters über Jahrzehnte hinweg Kinder und Jugendliche misshandelt, gequält und sexuell missbraucht worden.

Die Hamburger Bischöfin Maria Jepsen tritt von ihrem Amt zurück. Gegen die 65 Jahre alte Bischöfin war der Vorwurf erhoben worden, sie sei 1999 Hinweisen auf sexuellen Missbrauch von Jugendlichen durch einen Pastor aus Ahrensburg nicht energisch genug nachgegangen.

September: Die Deutsche Bischofskonferenz überarbeitet ihre „Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger“ aus dem Jahr 2002. Der Begriff „sexueller Missbrauch“ Minderjähriger umfasst in der Kirche nun mehr Tatbestände als die Bestimmungen im Strafgesetzbuch. Nicht zu tolerieren seien in der Kirche auch Handlungen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen „unter der Schwelle der Strafbarkeit“, die als „Grenzüberschreitungen“ angesehen werden müssten. Anstatt nur für Geistliche gelten die neuen Leitlinien auch für Laien im haupt- oder ehrenamtlichen Dienst der Kirche. Angeblich wurden die neuen Leitlinien in enger Abstimmung mit Opferverbänden, Fachleuten verschiedener Disziplinen und dem Bundesjustizministerium verfasst. Nach wie vor lässt sich der Sekretär der Bischofskonferenz, Langendörfer, hauptsächlich von der Kanzlei Redeker Sellner Dahs beraten.

Papst Benedikt XVI. spricht während einer Predigt in der Londoner Westminster Kathedrale von dem ungeheuren Leiden, „das durch den Missbrauch von Kindern verursacht wurde, besonders, wenn es in der Kirche und durch ihre Diener geschah.“ Notwendig sei neben einer Heilung der Opfer die Läuterung der Kirche.

Auch in Belgien ist sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch Geistliche und andere Mitarbeiter der katholischen Kirche jahrzehntelang weit verbreitet gewesen. Der Vorsitzende einer Gruppe unabhängiger Sachverständiger, der Kinderpsychiater Peter Adriaenssens, spricht von „inzestuöser Tatenlosigkeit in der Kirche“. Zwei Drittel der Opfer seien Jungen. Mindestens 13 Missbrauchsopfer hätten sich das Leben genommen.

Dezember: Die drei Ministerinnen Leutheusser-Schnarrenberger (Justiz, FDP), Schavan (Bildung, CDU) und Schröder (Familie und Jugend, CDU) ziehen nach der dritten Sitzung des „Runden Tischs zum sexuellen Kindesmissbrauch“ eine Zwischenbilanz: „Verschweigen, Vertuschen und Verdrängen hat ein Ende. Das Tabu, über sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen zu sprechen, wurde gebrochen.“ Etwa 60 Vertreter aus Politik, Kirche und Gesellschaft hatten seit Mitte des Jahres in großer Runde und kleineren Arbeitsgruppen über einen besseren Schutz von Kindern beraten. Bis Ende 2011 soll ein Abschlussbericht vorliegen.

Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger legt einen Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs vor. Damit Opfer sexualisierter Gewalt ihre Schadensersatzansprüche gegen Täter und mitverantwortliche Dritte besser durchsetzen könnten, sollen die zivilrechtlichen Verjährungsfristen für Ansprüche wegen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung von drei auf 30 Jahre verlängert werden.

In einem Gutachten für die Erzdiözese München und Freising stellt die Kanzlei Westpfahl, Spilker, Wastl (WSW) nach Sichtung von 365 Akten und der Befragung von Verantwortlichen fest, dass Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester und andere kirchliche Mitarbeiter im großen Ausmaß vertuscht worden sei. Außerdem seien in den Jahren 1945 bis 2009 Akten „in erheblichem Umfang“ vernichtet worden. Der Schlussbericht mit einem Umfang von 250 Seiten wird seitens des Erzbistums wegen personenbezogener Daten nicht veröffentlicht. In der sieben Seiten umfassenden, öffentlichen Zusammenfassung ist zu lesen: „Die Reaktionen des Ordinariats auf die Missbrauchsvorwürfe (…) zentrieren sich bis Inkrafttreten der Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz im Jahre 2002 auf die Nichtwahrnehmung der Opfer, ihrer körperlichen und ins- besondere seelischen Verletzung und der hiermit verbundenen, teilweise dauerhaften, Tatfolgen.

Die in der Vergangenheit zu verzeichnenden gravierenden Aufklärungsmängel, die Ausdruck gänzlich unterentwickelten Interesses für das Tatgeschehen sind, finden ihre Ursache in diesem Desinteresse gegenüber dem Opferschicksal und der fehlenden Bereitschaft, sich den damit einhergehenden Konflikten zu stellen. Aus gutachterlicher Sicht in besonders krasser Form wird die Missachtung der Opfer in den Fällen deutlich, die eine Verwendung eines durch eine Sexualstraftat zu Lasten eines Kindes auffällig gewordenen Priesters an anderer Stelle unter Verschweigen der Hintergründe nicht nur zuließ, sondern veranlasste, wodurch weitere Opfer sehenden Auges in Kauf genommen wurden. Diese nicht zu rechtfertigende Behandlung der Opfer ging einher mit einer inadäquaten Fürsorge für den jeweiligen Täter. Ihm und auch der Kirche galt jede Anstrengung, eine öffentliche Wahrnehmung des Tatgeschehens und – wie man meinte – einen Skandal zu vermeiden. Mit dieser aufklärungsfeindlichen Priorität steht das Fehlen jeglicher innerkirchlicher Sanktion in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle in Einklang.“

Das Jahr 2011

Januar: Die katholischen Bischöfe in Deutschland lassen keine Bereitschaft erkennen, sich für die Weihe verheirateter Männer zu Priestern einzusetzen. Der Vorschlag einer Reihe ranghoher Unionspolitiker, angesichts des um sich greifenden Mangels an Priestern den Klerikerstand für sogenannte viri probati (verheiratete Männer) zu öffnen, sei eine „Anregung von weltkirchlicher Tragweite und verlangt eine entsprechende Meinungsbildung und Entscheidung auf gesamtkirchlicher Ebene“.

Februar: Etwa 160 deutschsprachige katholische Theologieprofessoren rufen in einem „Memorandum zur Krise der katholischen Kirche“ zu einer „Erneuerung kirchlicher Strukturen“ auf. Mehr „synodale Strukturen auf allen Ebenen“ würden für einen „echten Neuanfang“ sprechen. Das schließe die Beteiligung der Gläubigen an der Bestellung wichtiger Amtsträger wie Pfarrer und Bischöfe ein. Zudem brauche die Kirche auch verheiratete Priester und „Frauen im kirchlichen Amt“. Dringend verbessert werden müssten Rechtskultur und Rechtsschutz in der Kirche.

Die Benediktinerabtei Ettal will einen Fonds einrichten, mit dem Opfer entschädigt werden sollen, die sexuelle und körperliche Gewalt an der Internatsschule des Klosters erlitten haben. Der Fonds wird mit 500 000 Euro dotiert sein, die das Kloster aus seinem Vermögen aufbringen will. Die Höhe der Entschädigungen soll nach den Worten des früheren Bundesverfassungsrichters Hans-Joachim Jentsch, der die Abtei bei der Aufklärung der Taten berät, von einem unabhängigen Kuratorium festgelegt werden.

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser- Schnarrenberger (FDP, Mitte hinten vor blauer Wand) und die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Christine Bergmann (SPD, rechts neben Schnarrenberger), eröffnen am 2. März 2011 in Berlin die Sitzung der Arbeitsgruppe des Runden Tischs zur Aufarbeitung von Fällen sexuellen Missbrauchs.


Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser- Schnarrenberger (FDP, Mitte hinten vor blauer Wand) und die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Christine Bergmann (SPD, rechts neben Schnarrenberger), eröffnen am 2. März 2011 in Berlin die Sitzung der Arbeitsgruppe des Runden Tischs zur Aufarbeitung von Fällen sexuellen Missbrauchs.
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Bild: dpa

März: Die katholischen Bischöfe legen der Arbeitsgruppe Justiz des „Runden Tischs Sexueller Kindesmissbrauch“ der Bundesregierung ein detailliertes Konzept zur Entschädigung von Opfern sexueller Gewalt und zur Linderung des damit verbundenen Leides vor. Der Hilfeplan der Bischöfe besteht aus den vier Elementen Prävention, Übernahme von Kosten für Psychotherapie und Paarberatung, materieller Anerkennung des Leids sowie einer Härtefallregelung. Personen, die als Minderjährige Opfer sexueller Gewalt wurden, können einen Anspruch auf bis zu 5000 Euro geltend machen.

Um eine Entschädigung zu erhalten, müssen die Betroffenen einen schriftlichen Antrag stellen. Erforderlich ist eine eidesstattliche Erklärung per Unterschrift, aus der hervorgeht, dass sie als Minderjährige oder Schutzbefohlene Opfer eines sexuellen Übergriffs durch Kirchenmitarbeiter wurden. Anschließend gehen die Anträge an eine „Zentrale Koordinierungsstelle“ (ZKS). Diese ist mit Psychologen, Juristen und Theologen besetzt und beim „Büro für Fragen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger im kirchlichen Bereich“ der Deutschen Bischofskonferenz angesiedelt. Der Rechtsweg ist bei diesem Verfahren ausgeschlossen, da es sich um eine freiwillige Leistung der kirchlichen Einrichtungen handelt.

Am Abend des ersten Tages ihrer Frühjahrs-Vollversammlung bekundeten die Bischöfe in einem Bußakt gemeinsam ihre Scham und ihr Versagen angesichts der sexuellen Gewalt, die Männer der Kirche Kinder und Jugendlichen angetan haben. Zugleich bitten sie um Vergebung und um „die Gnade des rechten Wortes und der Tat, die Wunden heilt“. Der Deutschen Olympische Sportbund (DOSB) will sich nicht an Entschädigungszahlungen für Opfer sexuellen Missbrauchs im Sport zu beteiligen, wenn Trainer oder ehrenamtliche Helfer in Vereinen zu Tätern werden.

Mai: Der Vatikan dringt auf ein weltweit einheitliches Vorgehen gegen sexuelle Übergriffe von Geistlichen auf Kinder und Jugendliche. Zu diesem Zweck veröffentlichte die Kongregation für die Glaubenslehre ein Rundschreiben, das alle Bischofskonferenzen verpflichtet, binnen eines Jahres entsprechende Leitlinien zu erstellen oder die bestehenden Regelungen der unter Papst Benedikt XVI. erneuerten kirchlichen Gesetzgebung anzupassen.

Ein interdisziplinäres Forscherteam um Winfried Häuser von der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität München stellt im „Deutschen Ärzteblatt“ die Ergebnisse einer Befragung über sexuelle Gewalt vor. Demzufolge berichtet in einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe rund jeder zehnte über körperliche Vernachlässigung in der Kindheit, 6,6 Prozent der Befragten fühlten sich seelisch-emotional vernachlässigt. Der Anteil schwerwiegender körperlicher Misshandlungen wird mit 2,8 Prozent, der sexuelle Missbrauch mit 1,9 Prozent beziffert. Die Ergebnisse unterscheiden sich nicht wesentlich von einer Erhebung aus dem Jahr 1995. Die deutschen Autoren bestätigen zudem die Befunde einer aktuellen britischen Untersuchung. Das betrifft nicht nur die Häufigkeit sexuellen Missbrauchs, der bei Mädchen auch dort mit 2,9 Prozent deutlich höher liegt als bei Jungen mit 0,8 Prozent. Es zeigte sich in Großbritannien ebenfalls, dass sexueller Missbrauch in allen Schichten vorkommt, während schwere körperliche Misshandlungen sich eher in Familien mit niedrigem Sozialstatus häufen.

Juli: In der katholischen Kirche wird ein „Dialogprozess“ mit dem Titel „Im Heute glauben – wo stehen wir?“ eröffnet. Zollitsch sagt im Deutschlandradio Kultur, im Dialogprozess sei kein Thema ausgeschlossen. Die derzeit dringendste Frage sei aber nicht die nach dem Zölibat oder der Sexualmoral. Der Limburger Bischof Tebartz-van Elst sagt: „Die Glaubenswahrheiten, die uns in Schrift und Tradition geschenkt wurden, sind weder Streitmasse noch Verhandlungssache.“

Die Deutsche Bischofskonferenz stellt zwei Projekte vor, in denen das Problem des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch katholische Priester, Diakone und Ordensleute wissenschaftlich erforscht werden soll. Beide Projekte wurden nicht ausgeschrieben, sondern freihändig vergeben. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen unter Leitung seines Direktors Christian Pfeiffer hat sich angeboten, die Personalakten der Jahre 1945 bis 2010 von neun ausgewählten Bistümern (Köln, Osnabrück, Hildesheim, Hamburg, Rottenburg-Stuttgart, München, Erfurt, Trier, Mainz) auf Hinweise auf sexuellen Missbrauch zu überprüfen. In den anderen 18 deutschen Bistümern soll sich diese Untersuchung auf die Jahre 2000 bis 2010 beschränken.

Zudem sollen in qualitativen Interviews Opfer von sexuellem Missbrauch, etwa 80 Täter und möglichst auch solche Geistliche befragt werden, die sich aufgrund ihrer Neigungen in der Gefahr sehen, in der Zukunft zu Tätern zu werden. Das zweite, auf ein Jahr angelegte Projekt unter Leitung des Psychiaters Norbert Leygraf (Universität Duisburg-Essen) soll in einer bundesweiten Vollerhebung alle sexuellen Übergriffe durch Geistliche in den Jahren 2000 bis 2010 auswerten, für die den Bistümern und Orden psychiatrische Gutachten über die Täter vorliegen. Leygraf gehört zu einer Gruppe von Psychiatern, die in den vergangenen Jahren des Öfteren Gutachten über Priester verfasst hat.

Seitens der Bischofskonferenz beziehungsweise des Verbands der Diözesen Deutschlands hat deren Sekretär Langendörfer die Fäden gezogen. Beraten wird er weiterhin von der Kanzlei Redeker Sellner Dahs, insbesondere von Gernot Lehr (Bonn) und Peter-Andreas Brand (Berlin). Letzterer gehört auch dem Beraterstab des Erzbistums Berlin an und ist Mitglied der Zentralen Koordinierungsstelle (ZKS) der Bischofskonferenz, die Anträge auf „finanzielle Anerkennung“ erlittenen Leids prüft. Die Deutsche Provinz der Jesuiten hatte zuvor eine Zusammenarbeit mit Pfeiffer abgelehnt.

Im Unterhaus des irischen Parlaments greift der neue Premierminister Enda Kenny den Vatikan mit der Bemerkung an. Rom pflege eine „gestörte, abgehobene, elitäre und narzisstische Kultur“. Zum Beleg zitiert Kenny Joseph Kardinal Ratzinger: „Regeln und Verhaltensweisen einer Gesellschaft oder einer Demokratie können nicht einfachhin auf die Kirche übertragen werden.“ Kenny setzte dagegen: „Solange es um den Schutz von Kindern in diesem Staat geht, können und werden wir die Regeln und Verhaltensweisen, die die Kirche für sich als angemessen betrachtet, nicht auf die Gesellschaft und Demokratie dieses Landes übertragen.“

September: Während seines Deutschland-Besuchs trifft Papst Benedikt XVI. in Erfurt mit Opfern sexueller Übergriffe durch Priester und kirchliche Mitarbeiter zusammen.

Oktober: Eine repräsentative Befragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) kommt zu dem Ergebnis, dass Kinder in Deutschland innerhalb der Familie erheblich seltener sexuell missbraucht werden als noch vor 20 Jahren. Übergriffe durch Sexualtäter außerhalb der Familie seien dagegen genauso häufig wie zuvor.

November:  Die Deutsche Bischofskonferenz erkennt in der Forderung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Frauen zu Diakonen zu weihen, eine „erhebliche Belastung für das Gespräch zwischen der Deutschen Bischofskonferenz und dem ZdK“. Mit diesen Worten kommentiert der Sekretär der Konferenz, Langendörfer, ein weitgehend einmütiges Votum der ZdK-Vollversammlung. Diese hat überdies beschlossen, sich für Geschlechtergerechtigkeit in der Kirche einzusetzen, insbesondere für eine stärkere Berücksichtigung von Frauen in kirchlichen Leitungsfunktionen. Zu diesen Forderungen äußerte sich Langendörfer nicht, obwohl die Bischöfe selbst schon vor dreißig Jahren davon gesprochen hatten, dass die katholische Kirche in Deutschland „Modell für das gleichwertige und partnerschaftliche Zusammenleben und -wirken von Männern und Frauen sein“ müsse.

Dezember: In den Niederlanden sind in Einrichtungen der katholischen Kirche seit 1945 „mehrere zehntausend“ Minderjährige Opfer sexueller Übergriffe geworden. Eine unabhängige Untersuchungskommission kommt zu dem Schluss, das Ausmaß sexueller Übergriffe durch Personen im Dienst der Kirche sei „prozentual betrachtet relativ gering, aber an den absoluten Zahlen gemessen ein großes Problem“. In Schulen und anderen Erziehungseinrichtungen sei das Missbrauchs-Risiko doppelt so groß gewesen wie in anderen sozialen Zusammenhängen. Katholische Schulen und Internate unterschieden sich hinsichtlich des Ausmaßes sexueller Übergriffe nicht signifikant von Einrichtungen in anderer Trägerschaft.

Im Jahr 2010 haben erstmals in der jüngeren Geschichte Deutschlands mehr Katholiken als Protestanten ihre Kirche verlassen. Die Deutsche Bischofskonferenz verzeichnet für das Krisenjahr 2010, in dem zahlreiche Missbrauchsfälle aufgedeckt worden waren, 181 193 Austritte. Die Evangelische Kirche in Deutschland veröffentlicht für 2010 die Zahl von 145 250 Austritten. Die Zahl der Übertritte von Katholiken ist deutlich gestiegen.

Das Jahr 2012

Februar: An der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom wird ein Symposion über sexuelle Gewalt veranstaltet. Unter dem Titel „Auf dem Weg zu Heilung und Erneuerung“ sprechen annähernd zweihundert Kardinäle, Bischöfe, Ordensobere, Theologen und Wissenschaftler aus mehr als hundert Ländern fast vier Tage lang miteinander darüber, was weltweit aus dem Skandal sexueller Übergriffe von Geistlichen auf Minderjährige und Schutzbefohlene zu lernen sei.

Juni: Der kirchenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen, Josef Winkler, schlägt zusammen mit einer Gruppe anderer Mandatsträger seiner Partei vor, die Kirchensteuer in eine „Kulturabgabe“ nach italienischem Vorbild umzuwandeln. Diese Abgabe würden nicht nur Kirchenmitglieder entrichten, sondern alle Einkommensteuerpflichtigen. Der Widerspruch aus allen politischen Lagern, auch dem eigenen, ist heftig. Von einer „Strafsteuer für Atheisten“ ist ebenso die Rede wie davon, dass eine Kulturabgabe oder Kultussteuer mit dem deutschen Staatskirchenrecht nicht vereinbar wäre.

Die Zahl der Austritte aus der katholischen Kirche hat sich im Jahr 2011 nach einem ungewöhnlich starken Anstieg im Jahr zuvor deutlich verringert. 2011 gab es demnach 126 488 Kirchenaustritte nach 181 193 im Jahr 2010. Damals hatte die Zahl der Kirchenaustritte erstmals die Zahl der Taufen überstiegen. 2006 lag die Zahl der Kirchenaustritte noch unter 85.000.

September: In Deutschland bleibt es dabei, dass ein Katholik seine Rechte als Kirchenmitglied verwirkt, sobald er vor einer zivilen Behörde seinen Austritt aus der Kirche erklärt. Wer sich von der Kirche lossage, der verletzte seine im Kirchenrecht festgelegte Pflicht, die Gemeinschaft der Kirche zu wahren und seinen finanziellen Beitrag dazu zu leisten, dass die Kirche ihre Aufgabe erfüllen kann, heißt es einem Dekret der Bischofskonferenz.

November: Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes wirft der Politik Versagen vor. Ein Jahr, nachdem der von der Bundesregierung eingerichtete „Runde Tisch Sexueller Kindermissbrauch“ seinen Abschlussbericht vorgelegt habe, sei von den vereinbarten Empfehlungen zur Prävention und zum Opferschutz wenig bis nichts verwirklicht, sagte Heinz Hilgers. Als „Skandal“ bezeichnete er es, dass der Gesetzentwurf zur Stärkung der Opfer, der unter anderem eine Verlängerung der Verjährungsfrist für solche Taten vorsieht, bislang nicht verabschiedet worden sei: „Der Gesetzentwurf liegt seit dem 22. Juni dem Bundestag vor, aber seitdem ist er nicht einmal in einem Ausschuss beraten worden.“

Das Jahr 2013

Januar: Die Deutsche Bischofskonferenz geht mit rechtlichen Schritten gegen Christian Pfeiffer, den Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), vor, nachdem ein gemeinsames Forschungsprojekt zu sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester und Ordensangehörige in einen Streit gemündet war. Ein Anwalt der Bischofskonferenz forderte Pfeiffer auf, künftig nicht mehr zu behaupten, die katholische Kirche wolle Forschungsergebnisse zensieren. Dies entspreche nicht den Tatsachen.

Im Zuge des Eklats hatte Pfeiffer auch gesagt, ihm lägen Hinweise vor, dass in mehreren Diözesen belastende Akten vernichtet würden. Der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, Langendörfer, erwiderte: „Es gibt keinerlei Hinweise für Aktenvernichtungen.“ Im Anschluss an den Vertrag zwischen dem Verband der Diözesen Deutschlands (VDD) und dem KFN waren Bedenken gegenüber dem Datenschutzkonzept und den Verwertungsrechten der Daten aufgekommen. Diese hatte mit einem Mandat des Erzbistums München die Kanzler Westpfahl, Spilker, Wastl formuliert. Der VDD war von Gernot Lehr und Peter-Andreas Brand (Redeker Sellner Dahs) beraten worden.

Februar: Drei Viertel aller katholischen Bischofskonferenzen haben nach Angaben des Vatikans inzwischen Leitlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch erarbeitet oder stehen kurz davor. Die übrigen stehen im Kontakt mit der Glaubenskongregation“, sagte der Strafverfolger für schwere kirchenrechtliche Vergehen, der amerikanische Jesuit Robert Oliver, in der Päpstlichen Universität Gregoriana. Es gebe allerdings auch Mängel. Die italienischen Bischöfe beschränkten sich in ihren Richtlinien etwa darauf, Abschnitte des Kirchenrechts zu zitieren.

März: Papst Benedikt XVI. tritt zurück. Sein Nachfolger wird der Argentinier Jorge Mario Bergoglio. Er nimmt den Namen Franziskus an. In den ersten Jahren seines Pontifikates wird der Papst mehrere Missbrauchsfälle an sich ziehen und mit Beschuldigten Nachsicht üben.

August: Der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, dringt darauf, seine Stelle auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen. Außerdem soll die Institution des Missbrauchsbeauftragten künftig einen Beirat erhalten, der sich aus Opfern sexuellen Missbrauchs zusammensetzt. Dieser Betroffenenrat solle dem Beauftragten Empfehlungen und Hinweise geben. Rörig schlägt außerdem die Gründung einer unabhängigen Kommission vor, die sexuellen Missbrauch von Kindern in Heimen, Schulen, Vereinen und Familien systematisch aufarbeiten und Ausmaß, Ursachen und Folgen darstellen soll.

Das Jahr 2014

Januar: Der Vatikan hat sich vor einem UN-Ausschuss gegen die Vorwürfe der Verschleierung von Kindesmissbrauch verteidigt. Die Kirche gehe energisch gegen diese „ungeheuerlichen Verbrechen“ vor, sagte Erzbischof Silvano Tomasi vor dem Kinderrechtsausschuss in Genf. Der Vatikan arbeite mit staatlichen Stellen im Ausland zusammen und habe Richtlinien erlassen, um Fälle aufzuklären und in Zukunft zu vermeiden.

Februar: Die Vereinten Nationen werfen dem Vatikan vor, den sexuellen Missbrauch durch Priester systematisch zu vertuschen. Der Vatikan reagiert scharf auf den Bericht, bezeichnet ihn als verzerrt und wirft den UN Einmischung in die katholische Morallehre vor.

Die Staatsanwaltschaft Hannover hat Details über das Verfahren gegen den SPD-Politiker Sebastian Edathy bekanntgegeben. Der Bundestagsabgeordnete soll sich über das Internet aus Kanada Videos und Fotos von nackten Jungen bestellt haben. Außerdem habe er sich zwei Mal Material aus dem Internet heruntergeladen. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel ist im Oktober vergangenen Jahres vom damaligen Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) darüber unterrichtet worden, dass der Name des damaligen SPD-Abgeordneten „im Rahmen von Ermittlungen im Ausland“ aufgetaucht sei.

März: Die katholische Kirche in Deutschland will den Missbrauchsskandal in den eigenen Reihen mit einem neuen Forschungsprojekt wissenschaftlich aufarbeiten. Die Bischofskonferenz hat ein aus vier Instituten bestehendes Forschungskonsortium beauftragt. Der Leiter des Konsortiums, Harald Dreßing vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, sagt, die auf dreieinhalb Jahre angelegte Studie sollte „den sexuellen Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche sowohl für die Betroffenen als auch für die Öffentlichkeit so transparent wie möglich aufarbeiten“.

Papst Franziskus setzt eine Kommission zum Schutz von Minderjährigen vor sexuellem Missbrauch ein. Unter den acht Mitgliedern der Kommission, der fünf Laien angehören, ist die Irin Marie Collins, die in den sechziger Jahren von einem Priester missbraucht wurde und sich weltweit für Missbrauchsopfer einsetzt. Zu den Kommissionsmitgliedern zählen zudem der italienische Jurist und Kirchenrechtler Claudio Papale, die emeritierte Londoner Psychiatrieprofessorin Sheila Hollins, der in Rom lehrende argentinische Jesuit und Papstvertraute Humberto Miguel Yañez die Französin Catherine Bonnet sowie der aus Bayern stammende Jesuit Hans Zollner SJ.

Juli: Papst Franziskus trifft erstmals Opfer sexuellen Missbrauchs durch katholische Geistliche. Mit sechs Betroffenen aus Deutschland, Irland und Großbritannien feiert er eine Morgenmesse. In seiner Predigt bittet Franziskus auch um Verzeihung für jene Kirchenführer, die nicht angemessen auf Berichte über Missbrauch geantwortet hätten. „In der Geistlichkeit ist kein Platz für jene, die Missbrauch begehen“.

September: Der Vatikan stellt den ehemaligen Papst-Botschafter in der Dominikanischen Republik Josef Wesolowski nach schweren Missbrauchsvorwürfen unter Hausarrest. Papst Franziskus hatte den polnischen Geistlichen 2013 aus der Dominikanischen Republik nach Rom zurückbeordert, nachdem ihm dort Missbrauch an sieben Kindern vorgeworfen und ein Ermittlungsverfahren eröffnet worden war. Wesolowski stirbt während eines Gerichtsverfahrens im Vatikan im Sommer 2015.

November: Nach einer Studie haben die Grünen in ihren Gründungsjahren pädosexuelle Positionen toleriert. Durch ihre Rolle als Partei hätten sie damit in einer ganz anderen Verantwortung gestanden als etwa ein Hochschulverband, heißt es in der Untersuchung. Zwar habe es im Zuge der Debatte über eine Liberalisierung des Sexualstrafrechts schon in den späten sechziger Jahren Forderungen gegeben, pädosexuelle Kontakte zu legalisieren. Die Grünen seien aber die Partei gewesen, bei denen solche Positionen teilweise mit in die Programme eingeflossen seien. 

Das Jahr 2015

Januar: In Deutschland sind nach Äußerungen des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, noch immer „viele tausend Mädchen und Jungen schutzlos sexueller Gewalt ausgesetzt“. Fünf Jahre, nachdem ein Zeitungsbericht erstmals großes öffentliches Augenmerk auf den sexuellen Missbrauch in Institutionen wie Schule und Kirche gelenkt habe, mangele es noch immer an finanziell abgesicherten Beratungsstellen und Therapieplätzen. Missbrauch dürfe jedoch „nicht länger zum Grundrisiko einer Kindheit gehören“.

Innenansicht der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom


Innenansicht der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom
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Bild: AFP

Februar: Das katholische Kinderschutzzentrum ist von München an die päpstliche Jesuitenuniversität Gregoriana nach Rom übergesiedelt. Dessen Leiter, der deutsche Jesuit Hans Zollner SJ, sagt, das 2012 gegründete und vom Erzbistum München und Freising finanziell geförderte Zentrum könne nun in Rom nicht nur Priesteranwärter während ihrer Ausbildung einbinden, sondern auch die regelmäßig anreisenden Bischöfe und Kardinäle für den Schutz vor Missbrauch und zur Prävention sensibilisieren.

Mai: Teile der Berliner Grünen waren über Jahre von einem Pädophilen-Netzwerk unterwandert. Bis Mitte der neunziger Jahre habe die Partei mindestens zwei verurteilte Straftäter als Mitglieder sowie pädosexuelle Positionen geduldet, sagt die Grünen-Landesvorsitzende Bettina Jarasch. Betroffene sollten sich bei einer neutralen Ombudsstelle des Landesverbands melden.

September: Während eines Besuchs in den Vereinigten Staaten begegnet Papst Franziskus in Philadelphia fünf Betroffenen und spricht davon, dass in einigen Fällen auch Bischöfe selbst Missbrauchstäter gewesen seien. Bei einem Treffen mit 300 Bischöfen aus aller Welt heißt es: „Die Verbrechen, die Sünden des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen dürfen nicht länger geheim gehalten werden.“

Das Jahr 2016

März: Laut einem im Bundesstaat Pennsylvania veröffentlichten Untersuchungsbericht haben zwei Bischöfe mehr als 50 Geistliche vor Strafverfolgung geschützt – und dass, obwohl sie deren Missbrauchstaten über die Jahre hinweg dokumentierten, sagte die Generalstaatsanwältin des amerikanischen Bundesstaates.

Juni:  Katholische Bischöfe und Äbte können ihr Amt verlieren, wenn sie bei der Verfolgung von Missbrauchsfällen nachlässig sind. Papst Franziskus präzisiert eine Vorschrift im Kirchenrecht, die die Amtsenthebung möglich macht, wenn ein Bischof „aus Nachlässigkeit Handlungen begangen oder unterlassen hat, die anderen schweren Schaden zufügten“. Der beschuldigte Amtsträger hat das Recht zur Verteidigung, und seine Schuld muss „objektiv nachweisbar“ sein.

Das Forschungsprojekt über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche liefert erste Ergebnisse. Bei einem Drittel der Taten liegt demzufolge eine „erhebliche Schwere“ vor. Die Wissenschaftler aus Mannheim, Heidelberg und Gießen (MHG) um den Psychiater Harald Dreßing und den Kriminologen Dieter Dölling stellten bei Geistlichen als Tätern unter anderem emotionale und sexuelle Unreife, Persönlichkeitsstörungen und Pädophilie fest. Die Täter innerhalb der Kirche sind wie in anderen Institutionen auch hauptsächlich männlich. Bei den Opfern gibt es aber Unterschiede: Während in nicht-kirchlichen Institutionen häufiger weibliche Betroffene (55 Prozent) verzeichnet wurden, sind die Opfer bei Taten in der Kirche überwiegend männlich (79 Prozent).

Das Jahr 2017

Februar: Eine Regierungskommission veröffentlicht erstmals Daten über das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs von Kindern in der katholischen Kirche in Australien. Demnach wurden zwischen 1950 und 2010 Missbrauchsvorwürfe gegen sieben Prozent der katholischen Priester in Australien erhoben. In einigen Orden sei der Anteil der Beschuldigten besonders hoch, darunter die „Christian Brothers“ mit 22 Prozent der Ordensmitglieder und die „St. John of God Brothers“ mit 40,4 Prozent. Insgesamt sind 4444 Betroffene in den Jahren 1980 bis 2015 an katholische Institutionen in Australien herangetreten. 78 Prozent dieser Personen waren männlich. Das Durchschnittsalter zur Zeit des mutmaßlichen Missbrauchs betrug 10,5 Jahre bei Mädchen und 11,6 Jahre bei Jungen. Bis der Missbrauch gemeldet wurde, vergingen im Durchschnitt 33 Jahre.

März: Aus Verärgerung über mangelnde Kooperationsbereitschaft vatikanischer Behörden tritt die Irin Marie Collins aus der päpstlichen Kinderschutzkommission aus. Collins hatte zuvor unter anderem kritisiert, die von der Glaubenskongregation gefällten Urteile gegen Missbrauchspriester würden später oft „abgeschwächt und verwässert“. Zudem monierte sie, dass Papst Franziskus schon 2015 einen Gerichtshof angekündigt habe, der Bischöfe verurteilen solle, die bei Missbrauchsfällen grob fahrlässig handeln, dass dieses Gericht aber noch immer nicht eingesetzt worden sei.

Eine wissenschaftliche Studie der Universität Ulm kommt zu dem Ergebnis, dass fast jeder siebte Deutsche oder 13,9 Prozent als Kind sexuell missbraucht worden sei. In einer vergleichbaren Studie aus dem Jahr 2010 hatten dies 12,6 Prozent der Befragten angegeben. Zugenommen hat nach Worten des Ärztlichen Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Ulm, Jörg M. Fegert, besonders die Zahl der Menschen, die angaben, schwer missbraucht worden zu sein: Sie stieg von 6,2 auf 7,6 Prozent. Der Kriminologe Christian Pfeiffer hatte vor sechs Jahren verkündet, die Zahl der Betroffenen sei „entgegen allen Erwartungen“ gesunken.

Oktober: Das an der Päpstlichen Universität Gregoriana angesiedelte Zentrum für Kinderschutz richtet einen Kongress über die „Würde von Kindern in der digitalen Welt“ aus.

Das Jahr 2018

Januar: Papst Franziskus besucht Chile, wo die katholische Kirche von Missbrauchsskandalen erschüttert wird. Er bittet Betroffene um Verzeihung, hält viele Anschuldigungen aber für kirchenfeindliche Machenschaften.

17. Februar: In den Vereinigten Staaten beschuldigen mehr als 50 Frauen mindestens 25 Männer der Modewelt, sie sexuell belästigt oder missbraucht zu haben. Sie sprechen damit ein Jahrzehnte altes Problem der Branche an.

9. März: Für Tausende Opfer sexuellen Missbrauchs in Australien wird es bald finanzielle Entschädigungen geben. Wie die Regierung mitteilt, werden in dem Entschädigungsprogramm zunächst etwa 15 000 Menschen in den Bundesstaaten New South Wales und Victoria Zahlungen erhalten. Es handelt sich dabei um Männer und Frauen, die als Kinder in Fürsorge öffentlicher Institutionen sexuell missbraucht wurden. Betroffen war laut der australischen Missbrauchskommission, die im vergangenen Jahr ihren Abschlussbericht vorgelegt hatte, allerdings eine deutlich höhere Zahl von Opfern.

Juan Barros, Bischof von Osorno, nimmt am 18. Februar an einer Messe mit Papst Franziskus teil. Das Kirchenoberhaupt hatte Vorwürfe, dass Bischof Juan Barros aus Osorno einen Päderasten geschützt habe, als Verleumdung bezeichnet.


Juan Barros, Bischof von Osorno, nimmt am 18. Februar an einer Messe mit Papst Franziskus teil. Das Kirchenoberhaupt hatte Vorwürfe, dass Bischof Juan Barros aus Osorno einen Päderasten geschützt habe, als Verleumdung bezeichnet.
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Bild: dpa

April: Noch im Januar war sich Papst Franziskus vollkommen sicher: Nichts als Verleumdungen seien die Anschuldigungen gegenüber einem Bischof namens Juan Barros, dieser habe über Jahre das Treiben eines pädosexuellen Priesters in Chile gedeckt, wenn er nicht sogar Augenzeuge sexueller Übergriffe gewesen sei. Drei Monate später und nach der Lektüre eines 2300 Seiten starken Berichtes mit der Leidensgeschichte von mehr als sechzig Opfern behauptet er, bei seinem Urteil über den Bischof falschen oder unzureichenden Informationen aufgesessen zu sein.

1. Mai: Als bisher höchster Vertreter der katholischen Kirche steht George Kardinal Pell in Australien wegen möglichen Kindesmissbrauchs vor Gericht.

18. Mai: Wegen des Missbrauchsskandals in der chilenischen Kirche haben alle 34 Bischöfe des Landes ihren Rücktritt angeboten. Im Mittelpunkt des Skandals steht Bischof Juan Barros, der den habituellen Missbrauch durch den früheren Priester Fernando Karadima gedeckt haben soll. Papst Franziskus selbst hatte Barros gegen Widerstand zum Ortsbischof von Osorno befördert und bei seinem Chile-Besuch im Januar noch verteidigt.

22. Mai: Ein australisches Gericht verurteilt den Erzbischof von Adelaide wegen Vertuschung eines Missbrauchsskandals. Philip Wilson wurde für schuldig befunden, den pädophilen Priester Jim Fletcher vor weiteren Ermittlungen geschützt zu haben, der in den siebziger Jahren im Bundesstaat New South Wales vier Jungen sexuell missbraucht hatte.

27. Juni: Bei der dritten Anhörung der Unabhängigen Kommission für die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs im Kontext der evangelischen und katholischen Kirche bekräftigen Betroffene, sie fühlten sich von den Kirchen nach wie vor nicht ernst genommen – noch immer fehle den Institutionen der Mut zur Aufklärung.        

15. August: Ermittlungsbehörden im amerikanischen Bundesstaat beschuldigen mehr als 300 katholische Priester, sich des sexuellen Missbrauchs von Kindern schuldig gemacht zu haben. Die Taten erstrecken sich über einen Zeitraum von 70 Jahren. Generalstaatsanwalt Josh Shapiro, der die bisherigen Ermittlungsergebnisse am Dienstag vorstellte, geht von mehr als 1000 Opfern aus. Er sprach von einer „jahrzehntelangen Vertuschung“ durch Kirchenobere in Pennsylvania und im Vatikan.

25. August: Der irische Premierminister Leo Varadkar will ein „neues Kapitel“ in der Beziehung zum Vatikan aufschlagen – und dessen Einfluss minimieren. Papst Franziskus betet während einer Reise nach Irland für die Missbrauchsopfer und verspricht Hilfe.

27. August: Der vormalige Apostolische Nuntius in den Vereinigten Staaten Carlo Maria Viganò fordert Papst Franziskus und mehr als ein Dutzend Kardinäle und Bischöfe zum Rücktritt auf. In einem elfseitigen Schreiben werden sie gemeinsam mit zahlreichen weiteren Geistlichen beschuldigt, als Mitwisser das „unmoralische Treiben“ des späteren Washingtoner Erzbischofs Theodore E. McCarrick gedeckt zu haben und eine Homosexuellen-Lobby in der Kirche zu bilden. McCarrick sieht sich seit Jahrzehnten Vorwürfen ausgesetzt, sich Seminaristen und junge Priester sexuell gefügig gemacht zu haben. Jüngst kaum der Vorwurf hinzu, er habe sich auch an Minderjährigen vergangen. Papst Franziskus hat den mittlerweile 88 Jahre alten Geistlichen daraufhin mit zahlreichen Kirchenstrafen belegt.

17. September: In Predigten, Briefen an die Gläubigen, Schreiben an die Mitarbeiter und auch Videobotschaften haben sich am Wochenende zahlreiche katholische Bischöfe erschüttert und beschämt über das Ausmaß sexualisierter Gewalt in der Kirche geäußert. „Tief bedrückt, erschüttert und beschämt sind wir von der Realität sexuellen Missbrauchs Minderjähriger in der katholischen Kirche“, sagt der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx. „Es werden Zahlen genannt, die fassungslos und betroffen machen“, schreibt der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki. Am weitesten geht der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck. Im Vorgriff auf eine von der Bischofskonferenz in Auftrag gegebene Studie heißt es, es gebe „alarmierende Hinweise, dass einige Vorstellungen und Aspekte unserer katholischen Sexualmoral sowie manche Macht- und Hierarchiestrukturen sexuellen Missbrauch begünstigt haben und immer noch begünstigen. Darüber müsse in der Kirche „offen und angstfrei gesprochen werden“.

In der vergangenen Woche war aus einer Zusammenfassung der Studie vorab berichtet worden, dass sich in Deutschland zwischen 1946 und 2014 insgesamt 1670 Geistliche 3677 sexueller Vergehen an vorwiegend männlichen Minderjährigen und Schutzbefohlenen schuldig gemacht hätten.

21. September: Die evangelischen Landeskirchen wollen eine zentrale Anlaufstelle für Opfer von sexuellem Missbrauch schaffen. Das hat die Kirchenkonferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beschlossen. Die Kirchenleitungen haben zudem einen Beauftragtenrat benannt, dem sowohl Theologen wie Juristen angehören. Eine umfassende Studie zu sexuellem Missbrauch wie in der katholischen Kirche plant die EKD derzeit nicht. Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm sagte, man nehme momentan keine negativen Auswirkungen des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche auf die evangelische Kirche wahr, teile aber das Entsetzen darüber.

23. September: Zwei Tage vor der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie der Deutschen Bischofskonferenz (MGH-Studie) kündigt Woelki als erster katholischer Bischof in Deutschland eine umfassende unabhängige Untersuchung von sexualisierter Gewalt durch Priester für das Erzbistum Köln an. Es gelte, „ungeschönt und ohne falsche Rücksichten“ Versagen und Schuld aufzuklären. Daher müssten im Fall pflichtwidrigen Verhaltens die Verantwortlichen namhaft gemacht werden. Das werde „wahrscheinlich sehr schmerzhaft – auch für uns selbst“.

Mehr als acht Jahre nach den Enthüllungen über sexuellen Missbrauch am Berliner Canisius-Kolleg nehmen die Bischöfe eine wissenschaftliche Studie entgegen.


Mehr als acht Jahre nach den Enthüllungen über sexuellen Missbrauch am Berliner Canisius-Kolleg nehmen die Bischöfe eine wissenschaftliche Studie entgegen.
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Bild: AFP

25. September: Die Veröffentlichung der MHG-Studie markiert für Reinhard Kardinal Marx einen „wichtigen Tag für die Geschichte der Kirche in Deutschland“. Als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz bittet er die Opfer des massenhaften sexuellen Missbrauchs unter dem Dach der Kirche um Entschuldigung. Missbrauch sei allzu lange geleugnet und vertuscht worden.“

27. September: Als Reaktion auf den Forschungsbericht über sexuelle Gewalt gegenüber Minderjährigen verspricht Kardinal Marx einen umfassenden Mentalitätswandel in der katholischen Kirche in Deutschland angekündigt. Künftig würden die Bischöfe ihr Verhalten auf den Feldern Intervention und Prävention einer regelmäßigen unabhängigen Überprüfung unterziehen würden.  „Ohne das Gespräch mit Betroffenen, mit Fachleuten und mit dem Kirchenvolk werden wir nicht vorankommen“, gestand Marx ein und erwähnte in diesem Zusammenhang ausdrücklich das „Zentralkomitee der deutschen Katholiken“.

15. November: Das Erzbistum Köln beginnt als eines der ersten Bistümer mit der Einrichtung eines Betroffenenbeirats. Man wolle den Betroffenen sexualisierter Gewalt damit „eine feste Stimme geben“, sagt Woelki. Er verspricht einen „Austausch auf Augenhöhe“. Die Einrichtung des Gremiums erweist sich als schwierig. Die angekündigte Zahl von zwölf Mitgliedern wird nicht erreicht, ebenso wenig die angestrebte paritätische Besetzung. Mehrere Mitglieder stehen als Angestellte des Erzbistums zudem in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis.

13. Dezember: Woelki beauftragt die Münchner Kanzlei Westpfahl Wastl Spilker (WSW) damit, in einem Gutachten zu prüfen, ob die Verantwortlichen des Erzbistums im Einklang mit staatlichem und kirchlichem Recht handelten, und, ob ihr Vorgehen dem kirchlichen Selbstverständnis entsprach. Rechtsverstöße und hierfür Verantwortliche seien möglichst konkret zu benennen.

Das Jahr 2019

März: Mitarbeiter Woelkis geben bei der Kanzlei WSW ein Sondergutachten in Auftrag, um feststellen zu lassen, ob sich in den Jahren 2010 und 2011 die damals Verantwortlichen des Erzbistums in einem Fall schweren sexuellen Missbrauchs Minderjähriger kirchenrechtlich korrekt verhalten haben. Die Juristen kommen zu dem Ergebnis, das sich die Verantwortlichen „in mehrerer Hinsicht rechtswidrig“ verhalten haben.

1. April: Woelki teilt dem damaligen Generalvikar und heutigen Weihbischof Dominik Schwaderlapp, den früheren Hauptabteilungsleiter Personal-Seelsorge, dem heutigen Hamburger Erzbischof Stefan Heße sowie dem obersten Kirchenrichter des Erzbistums und die Justitiarin in einem Schreiben mit, man werde „zum jetzigen Zeitpunkt mit Verweis auf die laufenden Untersuchungen nicht öffentlich über damalige Verantwortungen sprechen“. Allerdings könnten zu dem Fall U. wegen eindeutiger Verstöße gegen kirchenrechtliche Normen „zu diesem Fall Fragen aufkommen“.

21. Juni: Das Erzbistum Köln teilt mit, dass die ursprünglich für den Herbst 2019 geplante Veröffentlichung der Ergebnisse der Missbrauchsstudie erst im Frühjahr 2020 erfolge. Die Kanzlei WSW habe das Erzbistum darüber informiert, dass die sorgfältige Aufarbeitung mehr Zeit in Anspruch nehme, als bisher angenommen. 

Das Jahr 2020

14. Januar: Woelki zeigt sich im Gespräch mit der F.A.Z. fest entschlossen, das Münchner Gutachten im März ohne Wenn und Aber zu veröffentlichen.

29. Januar: Robert Kümpel, Personalchef des Erzbistums Köln von 1984 bis 1996 und zeitweilig Ansprechpartner für Betroffene, gesteht als erster (und bislang einziger) früherer Verantwortlicher schwere Versäumnisse im Umgang mit Missbrauchsfällen ein. Das Erzbistum habe „lange Jahre“ keine kirchenrechtlichen Strafprozesse eingeleitet. „Ich hätte mich stärker dafür einsetzen müssen, dass wir viel strikter und konsequenter gegen diese Täter vorgehen“, sagt der ehemalige Domkapitular der Kölner Kirchenzeitung. Zweimal habe er vorgeschlagen Täter in den Ruhestand zu versetzen, was ihm aber nur „ein nachsichtiges Lächeln der Kollegen“ eingebracht habe.

10. März: Der Kölner Generalvikar Markus Hofmann teilt zwei Tage vor der geplanten Veröffentlichung der Missbauchsstudie mit, dass der Termin auf unbestimmte Zeit verschoben werde. Eine spezialisierte Kanzlei habe in einem Gutachten festgestellt, „dass wir die Veröffentlichung der Ergebnisse so absichern müssen, dass eine identifizierbare Darstellung der Verantwortlichen nicht angegriffen werden kann“. Das Erzbistum lässt sich der Kölner Kanzlei Höcker und der Bonner Sozietät Redeker Sellner Dahs beraten. Gernot Lehr, einer der Partner, hatte gegenüber der Kanzlei WSW in einem Telefonat am 9. März 2020 „Bedenken hinsichtlich der äußerungsrechtlichen Risiken einer Veröffentlichung des Textes“ angedeutet. Diese konkretisierte er nach Vorliegen eines Entwurfs eines Teils des Gutachtens dahingehend, dass sie sich ausschließlich auf das „Wie“ und nicht auf das „Ob“ der Veröffentlichung bezögen und „zur Schaffung einer höheren Rechtssicherheit und zur Reduzierung von Risiken bei äußerungsrechtlichen Angriffen dienen“ sollten. Insbesondere macht Lehr keine Bedenken geltend, pflichtwidrig handelnde Verantwortliche öffentlich namhaft zu machen.

30. April: Die Deutsche Bischofskonferenz einigt sich mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, auf den Text für eine „Gemeinsame Erklärung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche in Deutschland“. Demnach sollen die Bistümer unabhängige Aufarbeitungskommissionen einrichten, die untersuchen sollen, wie die Bistumsverwaltungen mit Tätern und Betroffenen umgegangen sind, und Strukturen identifizieren, die sexuelle Gewalt ermöglicht oder erleichtert oder deren Aufdeckung erschwert haben. Die Bischöfe legen sich darin erstmals auf Kriterien für eine Unabhängigkeit fest: So darf höchstens die Hälfte der Mitglieder in einem kirchlichen Arbeitsverhältnis stehen oder einem Laiengremium angehören. Der Vorsitzende darf weder Betroffener noch kirchlicher Mitarbeiter sein und auch früher nicht im Dienst eines Bistums gestanden haben.

13. Juni: Eine Missbrauchsstudie für das Bistum Limburg wird veröffentlicht, die in der Abwägung zwischen Transparenz und Persönlichkeitsschutz einen Mittelweg darstellt. Die Fallbeschreibungen mit den Namen der belasteten Verantwortlichen sind nur im Ordinariat einsehbar. In der gedruckten wie in der Online-Version enthalten sind jedoch die Stellungnahmen der noch lebenden Personalverantwortlichen des Bistums zu den Missbrauchsfällen, von denen sie Kenntnis erlangten.

23. September: Dem Hamburger Erzbischof Stefan Heße wird in dem Gutachten der Münchner Kanzlei WSW laut einem Bericht der „Zeit“-Beilage „Christ & Welt“ eine „indifferente“ und „von fehlendem Problembewusstsein“ geprägte Haltung gegenüber dem Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker in seiner Zeit als Personalchef und Generalvikar des Erzbistums Köln vorgeworfen. Christ & Welt zitiert aus einer juristischen Stellungnahme des Erzbistums Hamburg vom 27. Mai. Demnach bescheinigt die Münchner Studie dem Kölner Erzbistum „regelmäßig wiederkehrende, durchgängig festzustellende Mängel in der Sachbehandlung von Missbrauchsfällen“.

24. September: Das Erzbistum Köln bekräftigt auf Nachfrage der Katholischen-Nachrichten-Agentur (KNA), dass die angekündigte Missbrauchsstudie veröffentlicht werde: „Es werden Namen genannt“, teilt ein Sprecher des Erzbistums mit. Dabei werde auch Heßes Forderung erfüllt, zugleich seine Sicht der Dinge zu präsentieren. „Dies entspricht den äußerungsrechtlichen Vorgaben und ist so in Auftrag gegeben worden.“

14. Oktober: Heße sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, in seiner Zeit als Personalchef des Erzbistums Köln den Priester U. der kirchlichen und indirekt auch der weltlichen Strafverfolgung entzogen zu haben, der drei Nichten missbraucht hatte. Der Geistliche wurde vielmehr schon bald wieder an alter Stelle in der Seelsorge eingesetzt.

29. Oktober: Der Betroffenenbeirat des Erzbistums Köln wird von Woelki, seinem Generalvikar Markus Hofmann und drei juristischen Beratern während einer kurzfristig einberufenen Sitzung völlig unvorbereitet damit konfrontiert, dass das Gutachten der Münchner Kanzlei WSW, „trotz mehrfacher Nachbesserungsversuche“ dem „Ziel der Aufklärung nicht gerecht“ geworden und daher „unbrauchbar“ sei. Vor allem eine „rechtssichere Namensnennung“ sei mit dem Gutachten nicht zu erreichen. Es sei nicht „gerichtsfest“, würde also etwaigen Klagen beschuldigter Verantwortlicher nicht standhalten. Für die Betroffenen sei damit kein endgültiger Abschluss möglich, argumentierten die Juristen. Unter diesem Eindruck stimmt das Gremium dem Vorschlag zu, ein neues Gutachten bei der Kölner Kanzlei Gercke Wollschläger in Auftrag zu geben. Woelki hatte diesem Plan schon im September zugestimmt. Dazu gehörte auch, zwei Juristen mit einem Gutachten über das WSW-Gutachten zu betrauen, die zu dem Ergebnis kommen würden, die Arbeit der Münchner Kanzlei weise „methodische Mängel“ auf.

30. Oktober: In einer „Gemeinsamen Erklärung des Betroffenenbeirats des Erzbistums Köln und des Erzbistums Köln“ heißt es, die Zusammenarbeit mit der Kanzlei WSW werde beendet, der Anwalt Gercke werde ein neues Gutachten verfassen. Der Sprecher des Beirats wird mit den Worten zitiert: „Wir sind enttäuscht und wütend, dass die Münchner Kanzlei derart schlecht gearbeitet und damit Versprechen einer gründlichen, juristisch sauberen Aufarbeitung gebrochen hat.“ Woelki äußert laut der Erklärung: „In den letzten Monaten haben wir wertvolles Vertrauen bei den Betroffenen verloren. Unser Weg war nicht frei von Fehlern. Mir ist klargeworden, dass die juristische und wissenschaftliche Perspektive allein nicht genug ist.“ Beide Sprecher des Betroffenenbeirats treten kurz darauf zurück, weil sie sich vom Erzbistum als Vorwand missbraucht sehen, um dessen lange gehegten Pläne abzusegnen.

4. November: Das Erzbistum Köln teilt mit, dass die Kanzlei Gercke Wollschläger denselben Arbeitsauftrag erhalten habe, wie die Münchener Kanzlei WSW. Dieser besteht laut einem vom Erzbistum veröffentlichten Auszug darin, zu prüfen, „ob die Vorgehensweise der damaligen Diözesanverantwortlichen im Einklang mit den insoweit bestehenden Vorgaben des kirchlichen und des staatlichen Rechts und/oder dem kirchlichen Selbstverständnis stand“. Über die Interpretation dieser Aussage besteht Dissens. Der Auftrag sei es gewesen, nicht nur eine bloße Rechtmäßigkeitskontrolle vorzunehmen, sagt der Münchner Anwalt Ulrich Wastl: „Wir sollten ausdrücklich auch prüfen und bewerten, ob und inwieweit das Verhalten etwaig zu benennender Bistumsverantwortlicher, insbesondere in moralischer Hinsicht, angemessen war. Der anzulegende Prüfungsmaßstab war dabei namentlich das kirchliche Selbstverständnis“. Das Erzbistum Köln hingegen sagt, es sehe die Rechtmäßigkeitskontrolle als „wesentliche Hauptleistung“ des Gutachtens an. Zudem sei „auch eine Bewertung von Verstößen gegen das kirchliche Selbstverständnis möglich“.

12. November: Die Münchner Kanzlei WSW veröffentlicht ein Gutachten über sexualisierte Gewalt im Bistum Aachen. Nach Angaben der Kanzlei ist es in Auftrag und Anlage identisch mit dem zurückgehaltenen Kölner Gutachten. Der Aachener Bischof Helmut Dieser ließ das Gutachten ungeachtet von Interventionen seines Amtsvorgängers Heinrich Mussinghoff sowie des ehemaligen Generalvikars Manfred von Holtum veröffentlichen, die in dem Gutachten stark belastet werden. Er bat die beiden, auf eine Klage zu verzichten.

19. November: Erzbischof Heße lässt sein Amt als Geistlicher Assistent des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken (ZdK) ruhen. In einer Sondersitzung vor der Vollversammlung des ZdK gibt Heße eine persönliche Erklärung ab, in der er bedauert, „dass seine Aufgabe für das Zentralkomitee zum gegenwärtigen Zeitpunkt durch die öffentliche Debatte über die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs im Erzbistum Köln belastet ist“.

20. November: Heße wendet sich an die Bischofskongregation im Vatikan mit der Bitte, nach der Veröffentlichung des neuen Missbrauchsgutachtens zu prüfen, „ob die dann vorliegenden Untersuchungsergebnisse Auswirkungen auf mein Amt als Erzbischof in Hamburg haben“.

24. November: Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs kritisiert Woelki für seinen Umgang mit der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch. „Es deutet vieles darauf hin, dass Kardinal Woelki mit Blick auf Betroffenenbeteiligung, Transparenz und Unabhängigkeit von Aufarbeitung einen massiven Fehler begangen hat“, sagt Johannes-Wilhelm Rörig dem „Tagesspiegel“. Wenn man Transparenz verspreche und dann nicht einhalte, „steht der Verdacht erneuter Vertuschung im Raum“.

27. November: Woelki kündigt vor dem Diözesanpastoralrat an, das zurückgehaltene Münchner Gutachten nach der Veröffentlichung des neuen Gutachtens „für interessierte Einzelpersonen, insbesondere Betroffene oder Journalisten im rechtlich möglichen Rahmen“ zugänglich zu machen. Vorbild sei hierbei das Vorgehen im Bistum Limburg. Auch die künftige unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und der Betroffenenbeirat im Erzbistum sollen demnach Einsicht erhalten.

Ende November: Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ veröffentlicht auf seiner Internetseite ein im Auftrag Woelkis angefertigtes Sondergutachten der Kanzlei WSW zum Missbrauchsfall des Priesters A. vom August 2019. Darin wird den verstorbenen Kölner Kardinälen Joseph Höffner und Joachim Meisner sowie Münsters früherem Bischof Heinrich Tenhumberg vorgeworfen, „pflichtwidrig“ kirchenrechtliche Verfahren gegen den Geistlichen unterlassen und ihn ungeachtet der Kenntnisse über seine sexuellen Übergriffe wieder in der Seelsorge eingesetzt zu haben. Auch der verstorbene Kölner Generalvikar Peter Nettekoven und sein Nachfolger Norbert Feldhoff werden belastet. Heße halten die Gutachter vor, einen 2008 gemeldeten Verdachtsfall gegen den Geistlichen nicht an die dafür zuständige Person im Erzbistum Köln weitergeleitet zu haben. Heße weist die Vorwürfe zurück. Der damalige Generalvikar Dominikus Schwaderlapp und damit die zuständige Dienststelle im Erzbistum sei informiert gewesen.

9. Dezember: Woelki sieht sich zum ersten Mal selbst mit dem Vorwurf konfrontiert, einen Missbrauchsfall vertuscht zu haben. Im Fall des mit ihm befreundeten Düsseldorfer Pfarrers O., der ein Kind im Kindergartenalter missbraucht haben soll, unterließ er nach einer neuerlichen Prüfung des Falls im Jahr 2015 eine Meldung an den Vatikan und handelte damit nach Auffassung führender deutscher Kirchenrechtler pflichtwidrig. Das Erzbistum Köln argumentiert zunächst, der Betroffene habe 2010 die Mitwirkung an einer weiteren Aufklärung abgelehnt. Daher habe man keine Voruntersuchung durchführen können und deshalb auch keine Meldung an den Vatikan übermittelt. Dieser Darstellung widerspricht der Betroffene. Daraufhin teilt das Erzbistum mit, die damals zuständige Ansprechperson des Erzbistums habe die Bereitschaft des Betroffenen zur weiteren Mitwirkung nicht übermittelt. Dieser Darstellung widerspricht die damalige Ansprechperson.

11. Dezember: Woelki bittet Papst Franziskus um eine Untersuchung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe im Fall des Pfarrers O.  Als dienstältester Bischof der Kölner Kirchenprovinz informiert der Münsteraner Bischof Felix Genn den Apostolischen Nuntius in Deutschland, Erzbischof Nikola Eterovic über die Vorwürfe gegen Woelki im Fall O. und bittet ihn, seine Mitteilung an den Vatikan weiterzuleiten. Papst Franziskus hatte 2019 festgelegt, dass der Vatikan „unverzüglich, jedenfalls innerhalb von 30 Tagen nach Erhalt der ersten Meldung seitens des Päpstlichen Vertreters“ Anweisungen geben müsse, wie im konkreten Fall vorgegangen werden soll.

Rainer Maria Kardinal Woelki an Weihnachten 2020 im Kölner Dom.


Rainer Maria Kardinal Woelki an Weihnachten 2020 im Kölner Dom.
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Bild: EPA

24. Dezember: Woelki bittet in der Christmette um Verzeihung für das „was die von sexueller Gewalt Betroffenen und Sie in den letzten Tagen und Wochen vor Weihnachten im Zusammenhang mit dem Umgang des Gutachtens zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in unserem Erzbistum, was sie an der Kritik darüber und insbesondere auch an der Kritik an meiner Person ertragen mussten“.

30. Dezember: Zum ersten Mal spricht sich ein Pfarrer des Erzbistums öffentlich für einen Rücktritt Woelkis aus: „Es haben schon eine Menge Leute gefordert, dass Woelki zurücktritt. Ich schließe mich dem an“, sagt der Pfarrer des Seelsorgebereichs Dormagen-Nord, Klaus Koltermann, der „Neuß-Grevenbroicher Zeitung“. Das Erzbistum droht ihm daraufhin mit dienstrechtlichen Konsequenzen, nimmt jedoch später wieder Abstand davon.

Das Jahr 2021

5. Januar: Das Erzbistum Köln lädt ausgewählte Journalisten zu einem Hintergrundgespräch und stellt in Aussicht, ihnen hierbei Einblick in das unveröffentlichte Gutachten der Münchener Kanzlei WSW zu geben. Zu Beginn verlangen Vertreter des Erzbistums von Journalisten unangekündigt die Unterzeichnung einer Verschwiegenheitserklärung. Als sich die Journalisten weigern, dies zu tun, wird das Gespräch abgebrochen. Auf ihren Einwand hin, dass eine solche Praxis nicht üblich sei, erhalten sie die Antwort, dass etwa auch im sogenannten Cum-Ex-Prozess mit Verschwiegenheitserklärungen gearbeitet werde.

19. Januar: Der Diözesanrat im Erzbistum Köln setzt seine Mitwirkung an dem von Woelki initiierten Reformprojekt „Pastoraler Zukunftsweg“ aus, in dem es um den künftigen Zuschnitt von Seelsorgeeinheiten geht. Aufgrund der „ungeklärten Missbrauchsaufarbeitung im Erzbistum Köln“ sei „keine hinreichende Akzeptanz vorhanden“, heißt es in dem Beschluss.

21. Januar: Der Kölner Weihbischof Ansgar Puff zitiert in einem Video zum Thema Fake News und Donald Trump Joseph Goebbels mit dem Satz: „Man muss eine Lüge nur oft genug wiederholen, dann wird sie auch geglaubt“. Puff sagt weiter: „Wiederholungen allein machen eine Aussage nicht automatisch wahr – auch nicht, wenn es um das angebliche Fehlverhalten von Bischöfen geht.“ Das wird als Kritik an der Berichterstattung über die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Erzbistum Köln verstanden. Nach scharfer Kritik äußert Puff, das Goebbels-Zitat habe sich auf Trump bezogen, er sei dankbar für kritischen Journalismus auch gegenüber Kirche und Bischöfen.

Ende Januar: Insgesamt 58 Priester aus dem Erzbistum Köln kritisieren in zwei Briefen „die misslingende Missbrauchsaufarbeitung“. Zugleich zeigen sie einen Loyalitätskonflikt an. „Wir fühlen uns der Kirche zutiefst verbunden, können uns aber nicht mit dem aktuellen Management der gegenwärtigen Vertrauenskrise in unserem Erzbistum identifizieren“, heißt es in einem der beiden Schreiben. Anlass für die Briefe war die Drohung des Erzbistums Köln mit dienstrechtlichen Konsequenzen gegenüber dem Dormagener Pfarrer Koltermann.

29. Januar: Ein Gutachten bescheinigt dem Erzbistum Berlin schwerwiegende Versäumnisse im Umgang mit Missbrauchsfällen. Das Erzbistum veröffentlicht die Untersuchung nur unvollständig. Jener Teil, in dem konkrete Beschuldigungen und die personenbezogenen Daten der Beschuldigten genannt werden, wird nicht veröffentlicht. Das Erzbistum begründet die Entscheidung mit dem Schutz der Persönlichkeitsrechte und der Gefahr einer Retraumatisierung der Betroffenen. Außerdem solle eine voyeuristische Darstellung der Fälle vermieden werden. Erstellt wurde das Gutachten unter anderem von Peter-Andreas Brand, einem Partner der Sozietät Redeker Sellner Dahs. Brand hatte seit 2011 das Erzbistum im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs beraten.

1. Februar: Als erster führender Geistlicher des Erzbistums fordert der Kölner Stadtdechant Robert Kleine die Verantwortlichen des Erzbistums einschließlich des Kardinals auf, umgehend die Verantwortung für ihre Fehler im Umgang mit sexuellem Missbrauch zu übernehmen und damit nicht mehr bis zur Veröffentlichung des Gutachtens zu warten. Alle wüssten, wer in den vergangenen Jahren als Bischof, Generalvikar oder Personalchef amtiert habe, sagt Kleine dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Spätestens unmittelbar nach der Vorstellung des Gutachtens am 18. März müssten Konsequenzen gezogen werden. „Wenn es überhaupt noch ein Stück Glaubwürdigkeit gibt, hängt sie am 18. März am seidenen Faden.“

Der Münchner Anwalt Ulrich Wastl weist den Vorwurf des Erzbistums Köln gegen das Gutachten seiner Kanzlei zurück. Er war nach eigener Aussage überrascht von der Ankündigung Woelkis, das Gutachten nicht zu veröffentlichen: „Weil gänzlich anderes besprochen war.“

4. Februar: Das Präsidium des „Synodalen Wegs“ kritisiert den Umgang Woelkis mit der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs. Die Vorgänge im Erzbistum Köln hätten dazu geführt, „dass Viele am Willen kirchlicher Autoritäten zu vorbehaltloser Aufklärung zweifeln“, heißt es in einer Erklärung. Dem Präsidium gehören auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Limburger Bischof Georg Bätzing, und dessen Stellvertreter, der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode, an. Alle, die in der Kirche Leitung ausübten, müssten die Konsequenzen tragen und sie gegebenenfalls auch selbst ziehen, „wenn sie im Umgang mit Missbrauch Recht gebrochen, Pflichten verletzt oder gravierende Fehlentscheidungen getroffen haben, heißt es in einer Erklärung. „Dabei kann auch ein Rücktritt kein Tabu sein.“

Woelki gesteht während einer Online-Konferenz des „Synodalen Weges“ Fehler ein. Er selbst trage die Verantwortung dafür, dass viel Vertrauen verloren gegangen sei. Es tue ihm Leid, dass Betroffene dadurch erneut traumatisiert wurden.

Heße sagt der „Osnabrücker Zeitung“, er habe darüber nachgedacht, sein Amt ruhen zu lassen. Er könne dies jedoch nicht von sich aus tun, und die vatikanische Bischofskongregation habe ihm „ganz klar“ signalisiert: „Im Moment gibt es nur Dinge, die in der Zeitung stehen. Es gibt noch kein Studie, deswegen haben wir keine Veranlassung jetzt Maßnahmen zu ergreifen.“ Laut Heße sind auch die Kölner Weihbischöfe Dominik Schwaderlapp und Ansgar Puff im Fokus der vatikanischen Behörde.

9. Februar: Woelki und Heße sehen sich in einem weiteren Fall von sexuellem Missbrauch schwerwiegenden Vorwürfen ausgesetzt. Das Erzbistum Köln soll einen Missbrauchstäter erst vier Jahre nach seinem ersten Geständnis bei der Staatsanwaltschaft angezeigt haben.

1. März: Anwalt Gercke berichtet in einem Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, dass Verantwortliche des Erzbistums Köln auch gegen sein Gutachten juristisch vorgingen. Die Reaktionen des einen oder anderen Verantwortlichen oder seiner Anwälte ließen erwarten, „dass es äußerungsrechtlich zum Schwur kommen kann“, sagt Gercke. Er spricht von einem „Ringen mit dem Äußerungsrecht, damit die Öffentlichkeit am Ende ein Gutachten präsentiert bekommt, das Ross und Reiter nennt“. Seine Kanzlei stehe „in einem teilweise sehr intensiven Austausch, weil wir immer noch sehr umfassend Post von Anwälten bekommen, die auf Basis von Wortlautprotokollen unserer Befragungen für ihre Mandanten bestimmte Dinge klarstellen oder anmerken wollen“.

7. März: Woelki sagt, er werde nach der Veröffentlichung des Gutachtens Führungskräfte des Erzbistums „wenn es nötig ist“ – vorläufig von ihren Aufgaben entbinden. Zu Konsequenzen für seine eigene Person sagt er im Domradio: „Sofern es mich betrifft, habe ich bereits erklärt, dass ich mich den Ergebnissen der Untersuchung stellen werde.“ Dasselbe erwarte er aber auch von anderen. Vertuschung oder Mauschelei dürfe es in der Erzdiözese nicht mehr geben.

Woelki benennt in einem Gespräch mit der „Kölnischen Rundschau“ erstmals Fehler, die er im Zusammenhang mit der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs begangenen habe. An erster Stelle nennt er, „dass wir immer wieder den Zusagen der Münchener Kanzlei vertraut haben, eine rechtssichere Aufarbeitung vorzulegen“. Ebenfalls als Fehler bezeichnet er es, dass man von Journalisten für ein Hintergrundgespräch eine Verschwiegenheitserklärung verlangt habe. An dritter und letzter Stelle führt er den Umgang mit Betroffenen an. Die Entscheidung, dass Münchner Gutachten nicht zu veröffentlichen, hätte das Erzbistum allein vertreten müssen, „anstatt dem Angebot von Betroffenenvertretern nachzukommen, mit dafür einzustehen“, sagt Woelki. 

10. März: Laut einem Bericht der „Zeit“-Beilage „Christ und Welt“ soll Hamburgs Erzbischof Stefan Heße in seiner Zeit als Personalchef im Erzbistum Köln vorschnell von der Unschuld eines beschuldigten Pfarrers überzeugt gewesen sein und der Schilderung eines Betroffenen nicht geglaubt haben.

14. März: In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (F.A.S.) wird der Umgang der Verantwortlichen mit dem Fall Priesters U. rekonstruiert. Überschrift: „Eine fast perfekte Vertuschung“.

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