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#Momentaufnahmen aus einer Zwischenkriegszeit

Momentaufnahmen aus einer Zwischenkriegszeit

Bilder Stepanakerts aus den vergangenen Tagen und von Anfang der neunziger Jahre sehen sich bedrückend ähnlich. Sie zeigen zerstörte Gebäude, Trümmer auf Straßen, brennende Autos, in Kellern kauernde Menschen. Der Krieg war in die Hauptstadt des von Armeniern bewohnten Gebiets Nagornyj Karabach zurückgekehrt. Anfang der neunziger Jahre kämpften die Karabach-Armenier um die Loslösung von Aserbaidschan, zu dem Nagornyj Karabach in der Sowjetunion gehört hatte; aus diesem Krieg gingen sie als Sieger hervor. Bis zum Waffenstillstand am 10. November wurde Stepanakert von den aserbaidschanischen Streitkräften beschossen, die das Gebiet nach 26 Jahren erfolgloser Bemühungen um eine politische Lösung des Konflikts teilweise zurückerobert haben.

Marion Dubberke

Reinhard Veser

Zwischen den beiden Kriegen ist in Karabach eine ganze Generation groß geworden. Wer in den vergangenen Jahren nach Stepanakert kam, erlebte eine normale postsowjetische Provinzstadt mit neuen Verwaltungsgebäuden und Kiosken und kleinen Läden in den Erdgeschossen der Plattenbauten. Von den Schäden des ersten Kriegs war nichts mehr zu sehen. Aber beide Kriege waren gegenwärtig – der vergangene und der drohende künftige. In den Denkmälern für die Gefallenen, in der Allgegenwart des Militärs in der Stadt, und vor allem in den Köpfen der Menschen.

Alle, die alt genug waren, maßen ihr Leben an dem, was sie damals durchgemacht hatten: den kalten Nächten im Keller, der Lebensgefahr bei den kleinsten alltäglichen Besorgungen; alle hatten Opfer persönlich gekannt. Wer jünger war, kannte die Erzählungen darüber in- und auswendig. Und angesichts der fast täglichen Zwischenfälle an der Waffenstillstandslinie von 1994 und der regelmäßigen Drohungen aus Aserbaidschan war der Gedanke an einen neuen Krieg für alle selbstverständlicher Teil des Alltags.

„Obwohl das Gehirn sagte, dass ein neuer Krieg kommen konnte, dachte ich, sie reden nur darüber, und es wird nicht passieren“, sagt die Fotografin Anahit Hayrapetian. Sie wurde 1981 in einem Dorf in der Nähe von Hadrut geboren, der ersten Stadt in Nagornyj Karabach, die im Oktober von den aserbaidschanischen Truppen eingenommen wurde. Aufgewachsen ist sie in der Nähe von Eriwan, heute lebt sie mit ihrer Familie in Frankfurt, aber Karabach blieb für sie der Landstrich, der für sie Heimat war: „Man kennt jeden und jeder kennt einen. Man kann ohne Anzuklopfen durch jede Tür gehen.“

Zeigen alle diese Bilder eine untergegangene Welt?

In jener Zeit, von der man ahnen, aber noch nicht wissen konnte, dass sie eine Zwischenkriegszeit war, hat Anahit Hayrapetian auf ihren regelmäßigen Reisen nach Nagornyj Karabach Verwandte, Freunde und Bekannte fotografiert. Ihre Bilder lassen sich nicht unter einer Überschrift zusammenfassen, sie haben außer dem Ort und der offensichtlichen Sympathie der Fotografin für ihre Motive auf den ersten Blick keine Gemeinsamkeit. Da sind romantische Aufnahmen des Dorfes im Morgenlicht, die die Schönheit der Landschaft Karabachs ahnen lassen; Schnappschüsse ausgelassen spielender Kinder, Menschen bei der Arbeit, Porträtbilder.

Einige der Fotos zeigen die unmittelbare Nähe des Kriegs: einen jungen Mannes, der nach dem vorigen Krieg seine Beine durch eine liegen gebliebene Mine verloren hat, drei Soldaten auf Patrouille im Grenzstreifen, Gewehre an der Wand, einen Soldaten in seinem aus alten Autoreifen errichteten Unterstand an der Frontlinie. Bei anderen muss man Anahit Hayrapetians Erzählung kennen, um die Schatten des Kriegs zu erkennen: das Porträt der alten Frau, die ihren Sohn im vorigen Krieg verloren hat; das Essen am überreich gedeckten Tisch, mit dem die Rückkehr eines jungen Mannes aus der Armee gefeiert wird – keine Selbstverständlichkeit, schließlich sind auch in den ruhigen Jahren bei Zwischenfällen an der Grenze regelmäßig Menschen verletzt oder getötet worden.

Die alltägliche Spannung zwischen friedlichem Leben und der Bedrohung wird in keinem Bild so deutlich wie jenem der jungen Soldatin in Uniform, die sich zu Hause schminkt. Auf dem Tisch vor ihr steht neben einer Schale mit Früchten ein Babyfläschchen. Gehört es zu dem Kind, dessen Foto man ihm Hintergrund unscharf ahnen kann? Ist das Kind gerade noch gefüttert worden, bevor die Mutter zum Dienst aufbrechen muss?

Einige der schönsten Bilder der Serie entfalten mit dem Wissen um das Geschehen der vergangenen Wochen eine ganz neue Wirkung. Wo ist der Bräutigam jetzt, der die Kuh hinter sich her zieht? Wie geht es dem jungen Vater, der seinen Säugling auf dem Arm hält? Werden die Männer aus der Blaskapelle, die den Hügel vom Denkmal „Wir sind die Berge“ – dem Wahrzeichen Stepanakerts – herabsteigen, je wieder Musik machen? Alle Männer, die körperlich dazu in der Lage sind, wurden eingezogen. Die beiden Jungs, die mit wenig begeistertem Gesichtsausdruck ihrer Lehrerin gegenüber sitzen, waren schon während der vier Tage dauernden Kämpfe im April 2016 alt genug, um mitzukämpfen. Was machen sie heute? Und kann es noch eine Fortsetzung jener Porträtserie des Jungen geben, den Anahit Hayrapetian über die Jahre immer wieder mit einem anderen Tier auf dem Arm fotografiert hat? Die Gegend um Hadrut, wo die meisten der Aufnahmen entstanden sind, steht nach dem Waffenstillstandsabkommen direkt unter aserbaidschanischer Kontrolle. Aus der Gegend gab es Berichte über Kriegsverbrechen an armenischen Zivilisten. Zeigen alle diese Bilder eine untergegangene Welt?

Kinder in Togh springen über einen Zaun auf dem Weg zur Schule.


Kinder in Togh springen über einen Zaun auf dem Weg zur Schule.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Diese beiden Jungs sind die einzigen in ihrer Klasse in einem kleinen Dorf in der Gegend um Hadrut.


Diese beiden Jungs sind die einzigen in ihrer Klasse in einem kleinen Dorf in der Gegend um Hadrut.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Die britische Hilfsorganisation Halo Trust zählt seit 1995 mehr als 370 Minenofer seit dem Kriegsende 1994. Etwa ein Drittel der Opfer waren Kinder. Der Mann auf dem Bild verlor als Kind nach dem Krieg 1988-94 so seine Beine.


Die britische Hilfsorganisation Halo Trust zählt seit 1995 mehr als 370 Minenofer seit dem Kriegsende 1994. Etwa ein Drittel der Opfer waren Kinder. Der Mann auf dem Bild verlor als Kind nach dem Krieg 1988-94 so seine Beine.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Symbol Armeniens: Der Berg Ararat als Wandgemälde im Grenzgebiet.


Symbol Armeniens: Der Berg Ararat als Wandgemälde im Grenzgebiet.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Die Artsakh-Jazz-Band am Fuße des Denkmals „Wir sind die Berge“ – dem Wahrzeichen Stepanakerts.


Die Artsakh-Jazz-Band am Fuße des Denkmals „Wir sind die Berge“ – dem Wahrzeichen Stepanakerts.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Blick über das Dorf Togh in der Hadrutregion, aufgenommen im Jahr 2006.


Blick über das Dorf Togh in der Hadrutregion, aufgenommen im Jahr 2006.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

„Es gibt nichts zu sagen, am Ende will ich Frieden, damit auch unsere Kinder in Frieden leben können.“ Sagt Nura Mirzoyan, die ihren Sohn im Krieg verloren hat.


„Es gibt nichts zu sagen, am Ende will ich Frieden, damit auch unsere Kinder in Frieden leben können.“ Sagt Nura Mirzoyan, die ihren Sohn im Krieg verloren hat.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Eine Soldatin schminkt sich zuhause.


Eine Soldatin schminkt sich zuhause.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Drei Soldaten am Grenzstreifen, aufgenommen im Jahr 2016.


Drei Soldaten am Grenzstreifen, aufgenommen im Jahr 2016.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Arthur mit einem Hasen. Anahit Hayrapetyan hat ihn jedes Jahr mit einem anderen Tier fotografiert. Hier im Jahr 2009.


Arthur mit einem Hasen. Anahit Hayrapetyan hat ihn jedes Jahr mit einem anderen Tier fotografiert. Hier im Jahr 2009.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Arthur mit einem Schaf im Jahr 2016.


Arthur mit einem Schaf im Jahr 2016.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Petroysans Familienfoto aus dem Jahre 2009.


Petroysans Familienfoto aus dem Jahre 2009.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Morgendlicher Blick über das Dorf, in dem Großmutter lebt.


Morgendlicher Blick über das Dorf, in dem Großmutter lebt.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Portrait der Großmutter. Als diese das Bild sah, sagte sie: „es gibt hier im Dorf keine Frau, die so aussieht.“


Portrait der Großmutter. Als diese das Bild sah, sagte sie: „es gibt hier im Dorf keine Frau, die so aussieht.“
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Anahit Hayrapetyans Sohn spielt mit anderen Kindern während eines Beuschs in Hadrut 2018.


Anahit Hayrapetyans Sohn spielt mit anderen Kindern während eines Beuschs in Hadrut 2018.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Im Grenzgebiet: Dieser Soldat verlor seinen Freund während des Krieges 2016.


Im Grenzgebiet: Dieser Soldat verlor seinen Freund während des Krieges 2016.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Adela füttert die neugoborenen Schafe. Viele Familien in den Dörfern leben von den Tieren und der Landwirtschaft.


Adela füttert die neugoborenen Schafe. Viele Familien in den Dörfern leben von den Tieren und der Landwirtschaft.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Ein Mann schert ein Schaaf.


Ein Mann schert ein Schaaf.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Die Familie feiert beim gemeinsamen Abendessen die Rückkehr des Cousins aus der Armee.


Die Familie feiert beim gemeinsamen Abendessen die Rückkehr des Cousins aus der Armee.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Ein Vater wartet mit seinem Baby auf den Bus nach Stepanakert.


Ein Vater wartet mit seinem Baby auf den Bus nach Stepanakert.
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Bild: Anahit Hayrapetyan

Weitere Bilder von Anhait Hayrapetyan sind auf  Instagram zu sehen und auf ihrer Homepage. Sie ist außerdem Gründungsmitglied des Fotografinnenkollektivs 4Plus.

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