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#Müssen die denn immer so empfindlich sein?

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Müssen die denn immer so empfindlich sein?

Im Grunde war der Lehrplan schuld, nicht? „Das Tagebuch der Anne Frank“ in der Klasse 9? Eine Klasse, in der Vierzehnjährige Macker markieren und „schon wieder Nationalsozialismus“ stöhnen? Demnach wären eher die Hormone beziehungsweise wäre die „menschliche Natur“ schuld, was manche hier als zutreffend empfinden könnten, was allerdings kaum hinreichend erklärt, warum einer der Schüler beharrlich behauptet, das Buch sei eine „Fälschung“.

Direktor Stege (überdreht: Devid Striesow) neigt inzwischen dazu, die Lehrerin Annika Ritter (Anna Brüggemann) als Schuldige zu identifizieren. Weder habe sie ihn rasch adäquat informiert noch für Ruhe gesorgt, oder? An seiner Schule, so sagt der Direktor im Verlauf der Klassenzimmerschlacht des Fernsehfilms „Das Unwort“ mehrfach, habe Antisemitismus auf jeden Fall keinen Platz. Genau wie Rassismus oder sonstige Vorurteile. Zahlreiche Urkunden dienen als Beleg. Hausmeister Eichmann (Florian Martens) etwa werde er, Stege, persönlich vor jedem Namensmobbing schützen, und diese Klassenkonferenz ausgerechnet am ersten Tag von Chanukka einzuberufen, könne ihm niemand verübeln. Es sei schwierig genug gewesen, kurz vor Weihnachten einen Termin zu finden. Stege versteht auch nicht, was die Schulaufsichtsbeamtin, Frau Dr. Gisela Nüssen-Winkelmann (Iris Berben) hier sucht. Zu finden gebe es nur einen untadeligen Ruf.

„Zu ihrem Schutz“ eingeschlossen

Die Sachlage: Max Berlinger (Samuel Benito) hat Karim Ansari (Oskar Redfern) das Ohrläppchen abgebissen und Reza Marschner (Victor Kadam) die Nase gebrochen. Alle drei Schüler der neunten Klasse sind seit zwei Wochen vom Unterricht suspendiert. Max als Gewalttäter soll von dieser, einer der besten Schule Berlins, entfernt werden. Schließlich würden im Westendgymnasium keine Unterschiede zwischen Kulturen, Konfessionen und Geschlechtern gemacht. Dass die Juden hier vor kurzem auf einer Liste notiert und dann während der Pausen im Chemieraum eingeschlossen wurden, sei ausschließlich zu ihrem Schutz geschehen. Der Schüler Felix Mandelbaum (Levi Busch) habe inzwischen die Schule verlassen? Müssten sie denn immer so empfindlich sein, diese Juden, fragt in diesem Film der Direktor.

„Das Unwort“ von Leo Khasin (Buch und Regie, Kamera Michael Wiesweg) reflektiert einen wahren Antisemitismusfall. Er beginnt als fiktives Wortprotokoll mit einigen satirischen Analysen, übertreibt zwar zunächst in Richtung Comedy und spielt ein wenig billig mit wohlfeiler Beamtenschelte, macht aber die Strukturen, die den wachsenden Antisemitismus hierzulande mit ermöglichen, wünschenswert deutlich. Zur Klassenkonferenz sind Max’ Eltern (Ursina Lardi, Thomas Sarbacher) gekommen; sowohl die Vertrauenslehrer als auch Karims Eltern sind nicht erschienen. Rezas iranischstämmige Mutter Majan Marschner Merizade (Neda Rahmanian) rauscht in Divenmanier spät in die inzwischen aufgeheizt-schuldzuweisende Erwachsenengruppe, verkündet ihre Ansichten (die man ja hierzulande angeblich nicht verkünden dürfe: „Die Juden lieben das Geld. Ich auch. Was ist schlimm daran?“) und animiert die bis dahin souveräne Schulaufsichtsbeamtin Dr. Nüssen-Winkelmann ihrerseits zu einem rassistischen Totalausfall.

Über weite Strecken balanciert Khasins Darstellung der Konferenz zwar am Rande des bitterernsten Klamauks, insbesondere aber die Rückblenden, die zeigen, wie in diesem Gymnasium über Wochen antisemitische Vorfälle ignoriert oder kleingeredet werden („kulturbedingte arabische Männlichkeit, das muss man verstehen“, „tja, der Nahostkonflikt“) sind wahrhaftig gelungen und zeigen eindrücklich, wie Antisemitismus und Rassismus wachsen, wenn ihnen nicht entschieden individuell und strukturell begegnet wird. Verharmlosung und Negierung geschehen hier durch Naivität („Meine Oma war in Auschwitz“ – „Was hatte sie denn ausgefressen?“), Dummheit („Zeitzeugen sind gerade so schwer zu bekommen“) und Nebenabsichten (wer kandidiert für das Amt des Bezirksbürgermeisters?). Dass die junge, idealistische Lehrerin, von Anna Brüggemann mit viel Herzblut gespielt, wahrscheinlich mit Burn-out ausscheidet, scheint sicher.

Zum Ende hin entscheidet sich „Das Unwort“ allerdings für eine interfamiliäre patriarchalische Versöhnungsvariante, die man zwar als salomonisch gutheißen kann, die dem Film aber jeden staatsbürgerlichen Appellcharakter – der hier einmal angebracht und auch fiktional integrierbar gewesen wäre – nimmt. Auch Karims palästinensischer Vater ist, genau wie Max, im Prinzip ein friedvoller Supertyp. Als beide Väter bei Frau Dr. Nüssen-Winkelmann noch einmal vorsprechen, löst sich die zuvor wache Analyse in die Perspektive friedlichen Wohlgefallens auf. Irgendwie sind wir doch alle Karrieristen, nicht? Oder Rassisten. Oder beides, so das immanente Fazit. Da ist sie wieder, die „menschliche Natur“. Als wenn es so einfach wäre.

Das Unwort läuft um 20.15 Uhr im ZDF.

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