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#Nicht zu früh zu nachlässig werden

Nicht zu früh zu nachlässig werden

Schritt für Schritt zur Normalität zurückkehren, die Balance wiederfinden: Die jüngsten Bemerkungen von Gesundheitsminister Jens Spahn zur Corona-Lage sind, was Markus Lanz wohl Nebelkerzen nennen würde. Bestenfalls sind sie fromme Wünsche fürs Frühjahr – wenn der Gesundheitsminister mutmaßlich schon längst seine eigene, politische Corona-Bilanz vorgelegt haben muss. Herbst und Winter jedenfalls stehen unter keinem guten Stern. Niemand will zurzeit prophezeien, was kommt. Aber es gibt Sorgen, berechtigte und irrationale.

In Nordthüringen haben mehrere Impfärzte Briefe mit Gewaltandrohungen erhalten – mit Absender. Die Verrohung mancher Impfgegner, die dem Weg der Querdenker folgen, erreicht langsam Trump’sches Format. Die Corona-Verharmloser, die bis in die Funktionärsetagen von Ärzteorganisationen hinein reichen, schrecken in ihrer melodramatischen und evidenzfreien Abwägung von Risiko und Schutz vor der öffentlichen Herabsetzung echter Fachleute nicht mehr zurück. Und das alles zieht auf den Social-Media-Plattformen einen solchen Rattenschwanz an Hetze und Hass nach sich, dass die praktischen Konsequenzen für den Pandemieschutz unkalkulierbar sind.

Klar ist: Stabile (aber keineswegs niedrige) Fallzahlen, wie wir sie seit September erleben, sind kein Indikator für die kalte Jahreszeit, wenn sich die Menschen wieder mehr drinnen aufhalten und das Immunsystem, dem natürlichen Rhythmus folgend und der trockenen Heizungsluft geschuldet, schwächer wird. Mehr als hundert Millionen Impfdosen sind im Land schon verabreicht worden, vier von fünf Erwachsenen sind vor schwerer Erkrankung oder Tod geschützt. Aber es gibt noch immer drei Millionen Menschen über 60 Jahre, die nicht geimpft sind – und neun Millionen Kinder unter neun Jahren, die noch nicht geimpft werden können.

Unbekümmert in die wohl letzte Welle der Pandemie?

Zur Erinnerung: In den ersten drei Corona-Wellen haben sich vier Millionen Menschen im Land infiziert, 95.000 sind an der Infektion gestorben – nur, muss man hinzufügen, weil die Corona-Maßnahmen in Deutschland oft früher und konsequenter umgesetzt wurden als in anderen Staaten. Selbst wenn sie in den Bundesländern sehr unterschiedlich gehandhabt wurden.

Trotzdem – und vielleicht auch geblendet von dieser vergleichsweise guten Zwischenbilanz und dem Wissen um sichere, wirksame Impfstoffe – haben sich viele in den Kopf gesetzt, die vermutlich letzte Welle dieser Pandemie unbekümmerter anzugehen. Das offensichtlichste Zeichen dafür ist die Corona-Schutzmaske, die in vielen Bundesländern und an vielen Schulen gefallen ist. Auch Spahns Ansage, die AHA-Regeln draußen ganz und damit auch im Gedränge von Veranstaltungen fallen zu lassen, dürften viele als Geste und Signal des Aufbruchs verstehen. Aber ist es ein Aufbruch in die Freiheit?

In gleicher Weise werden viele die Abschaffung der kostenlosen Bürgertests deuten. In den Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, etwa in der Kindertagespflege, sind viele quasi täglich im Alleingang für den Ansteckungsschutz vieler Familien verantwortlich und betreiben einen erheblichen Aufwand dafür. Nun müssen sie mit ansehen, wie die mühsam aufgebaute Testkultur ausgerechnet vor dem letzten Pandemiewinter massiv bröckelt. Mit der Abschaffung der Bürgertests spart der Staat zwar einige hundert Millionen Euro. Doch der Gesundheitsprävention erweist er mit diesem Laissez-faire-Gestus einen Bärendienst. Vorsorge ohne politische Verantwortung ist der Gesundheit der Bürger noch nie gut bekommen.

Die realen Risiken nehmen zu

Mahnende Beispiele, beim Infektionsschutz nicht zu früh nachzulassen, gibt es längst. Die USA haben ihre Nachlässigkeit beim Ausrollen von Massen-Corona-Tests mit einer der höchsten offiziellen Infektions- und Todeszahlen weltweit bezahlt. Auch Singapur, wo weit über achtzig Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sind, erlebt derzeit den schnellsten und höchsten Anstieg an Infektionen und schwer kranken Patienten. Impfdurchbrüche, nachlassende Immunität, Aufweichung von Schutzregeln, Pandemiemüdigkeit – mit jeder Woche und jedem Monat in den Winter hinein nehmen die realen Risiken zu. Zumal die infektiologischen Gefahren ohne Masken in diesem Winter wieder steigen – durch andere Atemwegserreger, vor allem aber durch die oft tödlich verlaufende Influenza.

Wer in dieser Situation eine gefühlte Sicherheit verspricht und über eine Rückkehr der „Balance“ sinniert, pokert hoch. Denn wenn wirklich jedes Covid-Opfer zu viel ist, wie Spahn immer wieder betont, und auch die möglicherweise Hunderttausenden oder Millionen Long-Covid-Betroffenen, dann dürfen wir vor dem Virus nicht zu früh zu nachlässig werden.

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