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#Schutzmasken saugen die Tränen auf

Schutzmasken saugen die Tränen auf

Männer in weißen Schutzanzügen hieven einen Sarg vom Wagen und tragen ihn zu dem frisch ausgehobenen Grab. Nur wenige Angehörige sehen zu, wie er rasch in der rötlichen Erde versenkt wird. Die Männer tragen Kränze herbei. Die Sicherheitsprotokolle erlauben keine Grabrede und kein stilles Verharren zum Abschied. Zehn Minuten dauert die Prozedur, dann müssen die Angehörigen gehen. Die Schutzmasken haben ihre Tränen aufgesaugt, nicht aber ihren Schmerz. Aus ihren Augen spricht Trauer, Entsetzen und Resignation.

Tjerk Brühwiller

Die Szene wiederholt sich alle zehn Minuten in Block 68 des Friedhofs Vila Formosa in São Paulo, des größten Friedhofs Lateinamerikas. Ein Grab nach dem anderen wird zugeschaufelt, bis die Reihe voll ist. Dann die nächste. Neue Särge treffen auf kleinen Transportwagen ein, fast im Kolonnenverkehr. In sicherem Abstand zueinander warten Grüppchen von Angehörigen, bis die Männer in den Schutzanzügen ihre Arbeit getan haben und sie an der Reihe sind.

„Es ist entsetzlich“, sagt Eugenia. Sie ist eine der freischaffenden Gärtnerinnen, die Gräber pflegen. „Es hört nicht mehr auf.“ Eugenia arbeitet seit fünf Jahren auf dem Friedhof und hat in dieser Zeit unzählige Beerdigungen gesehen. Doch mit der Pandemie seien die Zeremonien surreal geworden. Und noch nie seien es so viele gewesen. „Sie kommen aus allen Teilen der Stadt. Hier ist noch Platz.“

Fast 300.000 Pandemie-Tote

Der Friedhof Vila Formosa, der sich über eine Fläche von fast 80 Hektar erstreckt, ist einer von 22 öffentlichen Friedhöfen und gleichzeitig eine der größten Grünflächen der Millionenmetropole São Paulo. In den rund 70 Jahren seines Bestehens wurden hier mehr als 1,5 Millionen Leichname beerdigt – Menschen, die sich keine teure Beerdigung auf einem der privaten Friedhöfe leisten können. Viele Gräber sind überwuchert, weil sich niemand mehr kümmert.

Laut Stadtverwaltung liegt der Durchschnitt von Beerdigungen in ganz São Paulo bei 240 pro Tag im Sommer und rund 300 im Winter. Mit dem Fortschreiten der Pandemie ist die Zahl deutlich gestiegen. Im Januar und Februar wurden allein auf Vila Formosa durchschnittlich 45 Beerdigungen pro Tag durchgeführt, fast doppelt so viele wie vor der Pandemie.

„Es hört nicht mehr auf“, sagt eine freischaffende Gärtnerinnen, die die Gräber pflegt.


„Es hört nicht mehr auf“, sagt eine freischaffende Gärtnerinnen, die die Gräber pflegt.
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Bild: dpa

Insgesamt hat die Pandemie seit ihrem Ausbruch in Brasilien fast 300.000 Menschen getötet. In den vergangenen Tagen ist die Fallzahl noch einmal dramatisch nach oben geschnellt. Jedes vierte Corona-Opfer auf der Welt stammte in den vergangenen Tagen aus Brasilien. Der wöchentliche Durchschnitt liegt nun bei mehr als 2200 Toten jeden Tag. Eine aus Amazonien stammende hochansteckende Mutante des Coronavirus hat sich im ganzen Land ausgebreitet. Sie trifft auf Millionen Brasilianer, die sich nicht leisten können, zu Hause zu bleiben, weil sie sonst ihre Existenz verlieren. Seit Januar haben sie keine staatlichen Hilfszahlungen mehr erhalten. Nun hat der Kongress vier weitere Monatszahlungen von umgerechnet 26 bis 56 Euro bewilligt. Das Mindestgehalt liegt bei rund 165 Euro.

Bolsonaro leugnet die Gefährlichkeit des Virus weiter

Die wirtschaftlichen Zwänge sind aber nicht der einzige Grund, weshalb Brasilien zu einem Hotspot der Pandemie und zu einer Brutstätte für Mutanten des Virus geworden ist. Als Präsident Jair Bolsonaro vor rund elf Monaten gefragt wurde, wie viele Opfer in Brasilien zu erwarten seien, antwortete er: „Ich bin kein Totengräber, klar?“ Und tags darauf sagte er, dass es sich nicht lohne, dem Virus davonzulaufen. 70 Prozent der Brasilianer würden sich ohnehin anstecken. Heute zählt Brasilien jeden Tag zehnmal so viele Tote wie damals. Doch Bolsonaro leugnet die Gefährlichkeit des Virus weiter. Und viele Brasilianer folgen seinem Beispiel. Die von den Gouverneuren verhängten Isolationsmaßnahmen werden zwar von einer Mehrheit befürwortet, doch nur halbherzig befolgt.

Dabei wären sie nötiger denn je. Die Krankenhäuser im ganzen Land sind längst an ihren Kapazitätsgrenzen. In den kommenden Tagen drohen die Medikamente auszugehen, die für eine künstliche Beatmung notwendig sind. Auch der Sauerstoff wird knapp. Und wegen der Überlastung der Krankenhäuser sind nicht nur die Corona-Erkrankungen, sondern auch viele andere medizinische Komplikationen tödlich.

Zu den Opfern der zweiten Welle zählt auch eine Tante von Eugenia, der Friedhofsgärtnerin. Trotz ihrer Arbeit auf den Gräbern sei die Pandemie für sie lange ein unsichtbares Gespenst gewesen, sagt sie. „Doch wenn es jemanden aus deiner Familie trifft, weißt du, dass die Pandemie noch lange nicht vorbei ist. Es ist ein beklemmendes Gefühl.“

Die Stimmung in Brasilien kippt. Die Verunsicherung schlägt in Angst um. Vier von fünf Brasilianern sehen die Pandemie laut einer Umfrage außer Kontrolle. Mehr als die Hälfte gibt an, große Angst vor einer Ansteckung zu haben.

Unweit der Beerdigungen auf dem Friedhof Vila Formosa ragt ein verwitterter Kreuzturm aus Beton in die Höhe. Dahinter erstreckt sich Block 70. Der Lärm von Handmähern und einem Bagger wird lauter. Der Duft von geschnittenem Gras und feuchter Erde liegt in der Luft. Seit den frühen Morgenstunden werden hier weitere Gräber ausgehoben. Mehr als 100 werden es am Ende sein. Schon bald werden auch sie von den Männern in den weißen Schutzanzügen mit Särgen und roter Erde gefüllt sein.

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