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Sind Wörter unschuldig?

Auf dem Weg von W. G. Sebalds Buch „Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt“ aus dem Deutschen ins Englische ist eines der drei Motti verschwunden. Das Original erschien 1995, die Übersetzung von Michael Hulse drei Jahre später. Die Streichung dürfte der Autor selbst vorgenommen haben. Sie betrifft ausgerechnet ein Zitat eines der größten Klassiker der englischen Literatur, John Milton. Es ist der deutschen Ausgabe unübersetzt vorangestellt: „Good and evil we know in the field of this world grow up together almost inseparably.“ Der Satz wird als Zitat aus „Paradise Lost“ ausgewiesen. Das ist offenkundig falsch, denn er fügt sich nicht dem Versmaß des Epos.

Patrick Bahners

Feuilletonkorrespondent in Köln und zuständig für „Geisteswissenschaften“.

Zum Rätsel dieser kleinen Verlustgeschichte gehört die Frage, ob Sebald eine falsche Fährte legte. Der Erfolg wäre nachhaltig gewesen, denn noch in jüng­ster Sekundärliteratur findet sich die Fehlzuschreibung, so in der Werkmonographie von Uwe Schütte bei De Gruyter. Aber wenn Sebald die Leser irreführen wollte, warum hätte er den Engländern die Probe ersparen sollen? Näher liegt die Vermutung, dass der Irrtum der Grund für die Tilgung des Epigraphs war – weil Sebald, so David Lumsden, ursprünglich daran interessiert gewesen sein dürfte, am Anfang seiner literarischen Wallfahrt das Thema des Sündenfalls anzuschlagen.

Das Zitat stammt in Wahrheit aus der Areopagitica, dem von Milton 1644 pu­blizierten Traktat gegen die Buchzensur. Wer es im Kontext aufsucht, stößt aber in der Tat auf Adam und Eva, denn Milton variiert in seiner fiktiven Parlamentsrede sein frappantes soziobiologisches Bild, dass Gut und Böse zusammenwachsen und eine organische Einheit bilden, durch biblische Konkretisierung: Aus der Schale eines einzelnen gekosteten Apfels sei das Wissen um Gut und Böse in die Welt gesprungen, wie ein verklammertes Zwillingspaar. Dass man den politischen Gehalt dieser poetischen Prosa ein Vierteljahrhundert später in Miltons theologischem Weltgedicht wiederfinden könne, behauptet jetzt David Bromwich, der Literaturwissenschaft in Yale lehrt. Lag in Sebalds Irrtum demnach womöglich eine höhere Wahrheit?

Gegen die linke Zensur

Bromwich, der Biograph von Edmund Burke und William Hazlitt, ist ein entschiedener Verteidiger des absoluten Begriffs der Redefreiheit, den die amerikanische Verfassungstradition schützt. Seine Kommentare zur amerikanischen Politik, früher regelmäßig in der London Review of Books gedruckt, erscheinen neuerdings in der noch deutlich ausdrücklicher linken Wochenzeitschrift The Nation. In Persuasion, dem von ­Yasha Mounk gegründeten Online-Magazin, das gegen moralpolitische Zumutungen die Spielräume des freien Denkens verteidigt, greift Bromwich auf Milton zurück, um ein Argument gegen Tendenzen zu entwickeln, die er auf den Begriff der linken Zensur bringt.

Donald McNeil, ein Redakteur der New York Times, verlor seinen Job, weil er ein bestimmtes Wort in den Mund genommen hatte, nachdem er gebeten worden war, sich zu einem Fall pädagogischer Maßregelung wegen der Verwendung dieses Wortes zu äußern. In solchen Vorfällen kommt laut Bromwich eine „religiöse Theorie“ der Sprache zur Anwendung: Gefährlichen Wörtern oder Gedanken wird die Kraft zugeschrieben, die Person zu beschmutzen, die sie ausspricht oder hat. Gegen diese magische Sprachauffassung zitiert Bromwich als Gegenzauber, was Adam in Miltons Epos zum Trost Evas sagt, die im Traum von der verbotenen Frucht gegessen hat: „Evil into the mind of God or Man / May come and go, so unapproved, and leave / No spot or ­blame behind.“ Aus Adam spricht laut Bromwich der Milton der Areopagitica, der mit dem Bild des Apfels illustriert, dass das moralische Überlegen den Charakter einer reinigenden Prüfung habe: Man braucht die bösen Gedanken, um die guten von ihnen zu unterscheiden.

Für Bromwichs radikalliberale Auffassung der Meinungsfreiheit, die unbedingte Trennung von Worten und Taten, sprechen starke politische Gründe. Was seine Milton-Interpretation angeht, so liegt eine Schwierigkeit der Überblendung der beiden Paradiesszenen darin, dass Evas Traum in Adams Deutung keineswegs ein Prozess des Abwägens von Gedanken gewesen sein soll, ein unwillkürlicher Testlauf des kritischen Vermögens. Zwar sagt Adam, dass er Gedanken aus einem Gespräch von ihm und ihr im Traumbericht wiedererkannt habe, aber das Ganze soll folgenlos vorübergegangen sein.

Manfred Weidhorn hat 1965 in der Harvard Theological Review die Verse aus dem fünften Buch in den Zusammenhang der theologischen Diskussion über die Frage gestellt, ob das Träumen ein Sündigen sein kann. Er führt Zeitgenossen Miltons an, die unbewusste Aktivitäten nicht komplett von der Zurechnung ausnehmen wollten. So attraktiv die von Bromwich beschworene Vorstellung ist, dass das böse Wort im Geist keine Spuren hinterlässt: Die Unschuld dieses Liberalismus wird mit einem Mangel an psychologischer Fantasie bezahlt. Laut Thomas Browne können Träume Stoff für „a nightbook of our Iniquities“ liefern. „Die Ringe des Saturn“ sind ein solches Nachtbuch unserer Frevel.

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