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#Über dem Lärm der Zeit

Über dem Lärm der Zeit

Als Thomas Mann 1911 seinen „Tod in Venedig“ schrieb, stand diese Novelle im gärenden Vorfeld des Ersten Weltkriegs im Kontext einer Geisteshaltung, die sich länder- und gattungsübergreifend mit manchmal geradezu erotischer Verfallenheit am Zauber des Vergänglichen und sich Auflösenden, am Gefühl einer bevorstehenden Zeitenwende und der süßbitteren Erhabenheit endgültigen Abschiednehmens und wehmütigen Erinnerns berauschte. Ihr Symbolbild, das mit den sich schnell verbessernden Reproduktionstechniken in immer mehr Haushalten präsent war, hatte diese Fin-de-Siècle-Zeit schon in ihren Startjahren gefunden: Arnold Böcklins „Toteninsel“.

Inzwischen lagen deren verschiedene Fassungen schon über ein Vierteljahrhundert zurück, initiierten aber beispielsweise noch um Manns Venedig-Erzählung herum zwei Tondichtungen, deren Schöpfer ohrenscheinlich wenig miteinander am Hut hatten: Sergej Rachmaninows Komposition entstand 1907, die von Max Reger 1913. Erstaunlich nun, wie nahe sich der weltmännische russische Schwarzsamt-Melancholiker und der deftige Oberpfälzer mit Neigung zum verwickelten Kontrapunkt (melancholisch disponiert immerhin auch er) gerade bei ihren beiden „Toteninseln“ kommen – und zudem nicht nur chronologisch, sondern auch atmosphärisch Manns Text umkreisen.

Böcklin, der Anreger beider, war freilich inzwischen schon selbst unter der Erde. Der Baseler Maler hatte die fünf Varianten des Motivs als Mittfünfziger zwischen 1880 und 1886 in Florenz gemalt – in Jahren, als eigentlich noch weniger von Verfall und Untergang die Rede war, sondern der Schwung der industriellen Revolution den Zeitgeist bestimmte. Seine Kunst setzte dieser hitzigen Beschleunigung des gesellschaftlichen Pulses die melancholische Sehnsucht nach dem Einzel- und Anderssein, eine elitär-elegische Beschwörung von Welt und Wert des Unentfremdeten entgegen und wurde auch dadurch zu einem frühen massenmedialen Phänomen der Kulturgeschichte, weil man für diese arkadischen Idyllen oder dunklen Schwermutsträumereien, anders als für Wagners „Tristan“ oder Baudelaires Gedichte, keine Extrazeit investieren musste: Man konnte sie sich einfach ins Wohnzimmer hängen.

Dass sich der Schweizer überhaupt gedrungen fühlte, das wehmütig-düstere Thema variativ zu umkreisen, mag einer seltenen Konstellation zu danken sein: der Verbindung von persönlichem Leidensdruck (Missbefinden, Schaffensmüdigkeit, Reflexionen über das eigene Ende, kurz: eine kräftige Midlife-Crisis) und eines schnellen, trotz aller Depressionen gewiss nicht unangenehmen geschäftlichen Verwertungserfolges, der aus der Insel Nr. 1 gleich vier Folgeaufträge generierte. Hier kommt Fritz Gurlitt ins Spiel, der als Böcklins Berliner Agent nicht nur den erhaben-schauerlichen Bildtitel kreierte (der Künstler selbst sprach von einer „Gräberinsel“), sondern auch die flotte Geschäftsidee hatte, durch den jüngeren Max Klinger aus der dritten Fassung eine Radierung zu destillieren, die der Verbreitung des aller kapitalistischen Hektik enthobenen Eilandes zusätzlich guttat. Möglicherweise war diese Grafik auch die direkte Anregung für Rachmaninow, der die „Toteninsel“ nach eigenen Aussagen zur Zeit seiner Komposition nur in Schwarzweiß kannte.

Doch schon vordem hatte Böcklins Zyklus auch in anderen Künsten reichlich Frucht getragen. So nahm noch vor 1900 eine diesbezügliche Lyrikproduktion Fahrt auf, deren Bugwelle bis heute stetig am weiteren Steigen ist. Wer bei Google „Toteninsel“ und „Gedicht“ eingibt, kann sein blaues Wunder erleben. Filmemacher, Bühnenbildner, in jüngeren Jahren Videokünstler oder Cartoonisten – sie alle scheinen mit Leidenschaft beweisen zu wollen, dass die bannende Stille und Weltenthobenheit der Bilder, ihre schicksalsergebene, süß-heroische Traurigkeit nicht nur vor dem Zivilisationsbruch des Ersten Weltkriegs, sondern ebenso im stressigen Gelärme des aktuellen Daseins zum inneren Sehnsuchts- und Zufluchtsort werden kann.

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