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#Über die moderne Ich-Gesellschaft

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Mein, mich, mir: Leben wir in einer Ich-Gesellschaft? Fehlt es an Gemeinsamkeit, an der Bereitschaft, die Anderen auszuhalten?

Die moderne Gesellschaft legt den Individuen nahe, sich als die grundlegenden Elemente dieser Gesellschaft zu verstehen. Die Verfassung stattet die Individuen mit Grundrechten gegen den Staat aus. In der Wirtschaft, heißt es, ist der Kunde König und das Eigentum heilig. In der Kunst werden die Originalität und das Eigentümliche gefeiert. Die Massenmedien personalisieren die Politik und huldigen auch sonst der Prominenz. In den Schulen sucht man nach Begabungen, und als guter Unterricht gilt derjenige, in dem der Individualität der Schüler Rechnung getragen wird. Lernen selbst wird als individueller Vorgang dargestellt.

Jürgen Kaube

Herausgeber.

Der Soziologe Émile Durkheim hat schon 1898, als es darum ging, ob der Hauptmann Dreyfus der Staatsraison geopfert werden dürfe, vom „Kult des Individuums“ gesprochen, der den Einzelnen in unserer Gesellschaft heiliger mache als den Staat. Dabei setzte er sich von einem egoistischen Individualismus ab, um den „moralischen Individualismus“ hochzuhalten, der sich im Kampf um die Rechte jeder Person auf „Leben, Freiheit und Ehre“ beweise. Die moderne Gesellschaft, schreibt Durkheim durchaus bejahend, pflege eine Religion, in welcher der Mensch zugleich Gläubiger und Gott sei.

Von Größenwahn bedroht

Wenn das Individuum hört, wie so über es geredet wird, könnte es ernsthaft von Größenwahn bedroht sein. Alles dreht sich um die Einzelnen oder sollte sich jedenfalls um sie, ihre Handlungsspielräume, Bedürfnisse und Eigenarten drehen. In unseren Zeiten ist dieser Eindruck noch gesteigert worden. „Selbstverwirklichung“ gilt als legitimes Lebensziel. In der berühmten Bedürfnispyramide, die der amerikanische Psychologe Abraham Maslow 1943 skizziert hat, folgt sie nach den körperlichen Bedürfnissen, denen nach Sicherheit und sozialem Kontakt sowie dem Bedürfnis, anerkannt zu sein, als höchste Form des menschlichen Begehrens. „Werde, der Du bist“, rief gut 50 Jahre zuvor ein Philosoph seinen Lesern zu.

„Weil ich es mir wert bin“, lautet 100 Jahre nach ihm nicht weniger rätselhaft – denn wie soll man werden, was man schon ist? – eine berühmte Kaufbegründung in der Reklame für Kosmetik, die den Anspruch erheben darf, eine Begründung für jeglichen Luxuskonsum zu liefern. Angeblich gibt es inzwischen eine „Gesellschaft der Singularitäten“, in der sich alle als unvergleichlich vorkommen oder jedenfalls bis zur Erschöpfung nach Einzigartigkeit streben. „Die Freiheit beginnt beim Ich“, meint ein Pamphlet, das in dieser Formel schon alles erkennt, was über das moderne Gemeinwesen überhaupt zu sagen ist. Und selbst dort, wo das Ich als unfrei dargestellt wird, etwa in der Psychoanalyse, darf es sich als Zweck der ganzen Therapie verstehen: „Wo Es war, soll Ich werden“, lautet ihr Sinnspruch.

„Individuum“ oder „Ich“ heißt in vielen dieser Zusammenhänge eine Psyche, die sich nicht reinreden lässt, wenn sie über das befindet, was sie mag oder lieber vermeidet. Hierbei, in Fragen der Lust und der Aversion, unterwirft sich das moderne Ich, so denkt es jedenfalls, keiner Norm. Es kann jederzeit betonen, anders zu sein als die anderen. Vor allem die Mikroökonomen nicken an dieser Stelle heftig. Über Geschmack, so lautet ihre Devise, lässt sich nicht streiten, und wenn nachgewiesen werden kann, dass es sich bei einer Frage um eine Geschmacksfrage handelt, ist die politische (ästhetische, religiöse, familiäre, juristische) Diskussion auch schon zu Ende. Denn dann ist die zuständige Arena der Markt, auf dem sich die individuellen Geschmäcker als Zahlungsbereitschaften äußern. Es braucht keinen Streit, durch den sich die Individuen in Argumentationen über etwas verwickeln, für das es letztlich gar keine Argumente gibt, sondern eben nur abweichende Ansichten.

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