Wissenschaft

#Überreste einer „verlorenen Welt“ früher Einzeller entdeckt

Vor rund 1000 bis 800 Millionen Jahren entstanden die gemeinsamen Vorfahren aller heutigen Eukaryoten – Einzeller, deren chemischer und struktureller Zellaufbau zum Grundbauplan aller zellkerntragenden Lebewesen werden sollte. Doch was war davor? Das verraten nun fossile Moleküle, die von einer verlorenen Lebenswelt aus urtümlichen Eukaryoten-Vorläufern stammen. Diese von Wissenschaftlern in 0,8 bis 1,64 Milliarden Jahre alten Gesteinen entdeckten „Protosterole“ legen nahe, dass es damals eine ganze Gruppe von zellkerntragenden Einzellern gab, die in den Ozeanen der noch sauerstoffarmen Urerde verbreitet waren. Erst als sich die Umweltbedingungen änderten, es kälter und sauerstoffreicher wurde, wurde diese „Protosterol-Lebenswelt“ von den Vorfahren der heutigen Eukaryonten verdrängt und starb aus.

Alle heute lebenden Mehrzeller und eukaryotischen Einzeller wie Grünalgen oder Wimperntierchen stammen von einem gemeinsamen Vorfahren ab. Dieser letzte gemeinsame Urahn aller Eukaryoten – LECA genannt – entwickelte die molekularen und zellulären Strukturen, die noch heute die eukaryotischen Zellen prägen, darunter den Zellkern, die Zellorganellen und auch wichtige Moleküle des Zellstoffwechsels wie die Steroide. „Fast alle Eukaryonten erzeugen Steroide, wie zum Beispiel Cholesterin, das von Menschen und den meisten anderen Tieren produziert wird“, erklärt Erst-Autor Benjamin Nettersheim von der Universität Bremen. „Diese Lipidmoleküle sind integraler Bestandteil der eukaryotischen Zellmembranen, wo sie eine Vielzahl physiologischer Funktionen erfüllen.“ Konservierte Relikte dieser Steroide und ihrer Derivate lassen sich bis in Gesteine aus der Zeit vor 800 bis 1200 Millionen Jahren nachweisen. Biologen gehen daher davon aus, dass der letzte gemeinsame Vorfahre der heutigen Eukaryoten etwa um diese Zeit gelebt hat.

Steroid-Vorformen als biochemische Fossilien

Doch wie dieser Urahn der heutigen Eukaryoten entstand und aus welchen Vorformen, war bisher offen – fossile Hinweise auf mögliche Vorläufer dieses LECA fehlten bisher. „Wissenschaftler suchen schon lange nach fossilen Belegen für solche Ur-Eukaryoten, aber ihre physischen Relikte sind extrem selten. Stattdessen schienen die Ozeane der Urerde eher eine Art Bakteriensuppe gewesen zu sein“, sagt Nettersheim. Demgegenüber legten DNA-Vergleiche jedoch nahe, dass die Wurzeln der Eukaryoten deutlich weiter zurückreichen müssen als 800 bis 1200 Millionen Jahre. Auf der Suche nach möglichen Spuren dieser Urzeit-Einzeller haben Nettersheim und seine Kollegen nun einen neuen, chemischen Ansatz gewählt: Schon vor fast 30 Jahren postulierte der Biochemiker und Nobelpreisträger Konrad Bloch, dass es vor den fortgeschrittenen Eukaryoten Organismen gegeben haben könnte, die noch nicht den kompletten Stoffwechselweg für die Herstellung der typischen Eukaryoten-Steroide besaßen. Sie produzierten daher nur Ursterole – Vorformen der modernen Steroidmoleküle, die heute nur noch als Zwischenprodukte in der zellulären Synthesekette vorkommen.

Theoretisch, so die Annahme von Nettersheim und seinem Team, könnten sich Relikte solcher urzeitlichen Protosteroide in alten Gesteinsformationen erhalten haben. „Wir haben eine Kombination von Techniken angewandt, um verschiedene moderne Steroide zunächst in ihr fossiles Äquivalent umzuwandeln – andernfalls hätten wir gar nicht gewusst, wonach wir suchen sollten“, erklärt Co-Erst-Autor Jochen Brocks von der Australian National University. Dann begann das Team, Proben aus bis zu 1,7 Milliarden Jahre alten Gesteinsformationen aus verschiedenen Ländern auf diese Moleküle hin zu untersuchen – mit Erfolg: „Die älteste Ansammlung dieser Biomarker stammte aus der 1,64 Milliarden Jahre alten Barney-Creek-Formation in Australien, sie enthielt fast 100 verschiedene Protosterol-Derivate“, berichten die Wissenschaftler. Auch in anderen Gesteinen aus der Zeit bis vor rund 800 Millionen Jahren waren diese Proto- und Ursterole zu finden. „Sobald wir unser Ziel kannten, entdeckten wir, dass Dutzende anderer Gesteine, die aus Milliarden Jahre alten Gewässern auf der ganzen Welt stammten, mit ähnlichen fossilen Molekülen übersät waren“, sagt Brocks.

Verlorene Lebenswelt aus Stammgruppen-Eukaryoten

Nach Ansicht der Wissenschaftler sprechen diese Ergebnisse dafür, dass es vor dem Aufkommen der Eukaryoten nach modernem Muster eine ganze verlorene Lebenswelt urtümlicherer Stammgruppen-Eukaryoten gegeben haben muss. „Die neuen Funde dieser Biomarker enthüllen eine Protosterol-Lebenswelt, die im mittleren Proterozoikum weit verbreitet und sehr häufig war“, schreiben Nettersheim und seine Kollegen. In dieser Zeit vor 1600 bis 800 Millionen Jahren dominierten diese Ur-Eukaryoten die Lebensräume im offenen Wasser und bildeten eine große, weitverzweigte Gruppe von Organismen, die wahrscheinlich perfekt an die damals noch sauerstoffarme Urerde angepasst waren. „Diese Protosterol-Biota tummelten sich in den Ozeanen und Seen der damaligen Zeit – ihre Relikte waren die ganze Zeit sichtbar“, sagt Brocks. „Aber Wissenschaftler wussten nicht, wonach sie schauen mussten – bis jetzt.“ Diese Stammgruppen-Eukaryoten waren damals so erfolgreich, dass sie auch die Vorläufer der modernen Eukaryoten zunächst weitgehend verdrängten.

Vor rund 1000 bis 800 Millionen Jahren – in der erdgeschichtlichen Periode des Toniums – änderte sich dies jedoch. In dieser Zeit reicherte sich die Atmosphäre der Erde zunehmend mit Sauerstoff an, die Nährstoffzufuhr in die Ozeane stieg und das Klima wurde kühler und wechselhafter. Dieser Wandel leitete auch eine tiefgreifende ökologische Veränderung ein: Die bisher wegen ihrer aufwendigeren, weniger effizienten Synthese „moderner“ Steroide benachteiligten Vorfahren der heutigen Eukaryoten waren nun im Vorteil. Denn anders als die Protosterole waren ihre Steroide robuster und schützten die Zellen besser vor Austrocknung, Kälteschocks und osmotischem Stress. „Die frühen Vertreter der fortgeschrittenen Eukaryoten könnten damit so etwas wie die Extremophilen ihrer Zeit gewesen sein“, erklären die Forscher. Als sich die Umwelt im Tonium wandelte, konnten diese „moderneren“ Einzeller ihre Protosterol-Konkurrenten verdrängen, wenig später starben die Stammgruppen-Eukaryoten aus. „Diese Transformation im Tonium könnte einer der tiefgreifendsten ökologischen Wandel in der Evolution des komplexen Lebens gewesen sein“, schreiben Nettersheim und seine Kollegen. „Die fossilen Proto- und Ursterole sind damit die Zeugen einer verlorenen Welt dieser Stammgruppen-Eukaryoten des Erdmittelalters.“

Quelle: Jochen Brocks (Australian National University, Canberra) et al., Nature, doi:10.1038/s41586-023-06170-w

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